Sapere aude!

Leseprobe aus:

Ulrich Neuenschwander
In Freiheit glauben

 

Das ist die naheliegende Reaktion: Wir nehmen Ärgernis an dem, der uns durch seine Wahrheit zeigt, daß wir in der Unwahrheit sind. Darum ans Kreuz mit ihm!

Nein, das soll überwunden werden. Sehet länger auf ihn, bis ihr noch mehr seht als nur den menschlichen Menschen. Ihn hat Pilatus erkannt. Anderes hat er nur dunkel geahnt; es hat ihn unklar berührt, weil ihm als Römer die biblische Art, über Gott und sein Reich zu denken, ganz fremd war. Seine Götterwelt war eine andere. So kann er dem keinen Namen geben, was ihn so seltsam berührt: das, was nicht von dieser Welt ist. „Woher bist du?“ Das ist seine ratlose Frage. Es ist etwas um dich, was nicht von hier ist.

Wir möchten sagen: Auch darin zeigt sich uns Jesus als der Mensch, wie Gott ihn gedacht hat. Denn nicht nur die Mitmenschlichkeit macht die Wahrheit des Menschen aus, sondern auch das, was über die Welt hinaus reicht. Viele von uns haben das verloren. Darum suchen manche ein Christentum, das nur noch nach vorn auf eine soziale Veränderung der Welt hinblickt. Sie leben nicht mehr vor Gott, nicht mehr aus Gott, nicht mehr in Gott. „Gott ist tot“, so sagen sie traurig oder pathetisch, um damit in etwas gehobener Weise zu umschreiben, daß es in ihnen für Gott tot ist. „Gott“ ist ihnen ein fremdes Wort geworden, mit dem sie keinen Sinn mehr verbinden. Sie sind Menschen geworden, die zu Wesen, die nur noch von dieser Welt sind, zusammengeschrumpft sind.

Gewiß, wir sind von dieser Welt. Das muß so sein, wie könnten wir sonst Menschen sein? Aber nur von dieser Welt? Man kann auch so leben, wie ein Vogel, der keine Flügel hat, als reduzierter Mensch als „eindimensionaler Mensch“, wie ein vielgebrauchtes Schlagwort sagt.

Aber hier: ecce homo! Sehet ihn, in ihm ist Gott gegenwärtig als der selbstverständliche Grund seines Denkens, Fühlens, Handelns. Dieses Erfülltsein von Gott ist das Geheimnis seines Wesens. Wir werden das in dieser Art nie erreichen. Aber er kann uns einen Anteil daran vermitteln; denn in ihm ist die Nähe Gottes so ausstrahlend, daß sich etwas davon auch auf uns übertragen kann. Und das kann uns helfen, Gott auch wieder zu finden, so daß wir von ihm her und auf ihn zu leben und ganze, nicht reduzierte Menschen sind.