Sapere aude!


Leseprobe aus:

Führt Wahrhaftigkeit zum Unglauben?
David Friedrich Strauß als Theologe und Philosoph

Werner Zager (Hg.)



»Der Prophet einer kommenden Wissenschaft«

David Friedrich Strauß im Urteil Albert Schweitzers

Die Printfassung enthält Fußnoten.

Innerhalb seiner »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« würdigt ALBERT SCHWEITZER (1875–1965) die beiden großen Pioniere bei der Erforschung des historischen Jesus: zum einen HERMANN SAMUEL REIMARUS (1694–1768), Professor für orientalische Sprachen in Hamburg, dessen »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« erst im Jahre 1972 vollständig ediert worden ist, nachdem Lessing nach dem Tode des Verfassers sieben Fragmente in den Jahren 1774 bis 1778 anonym veröffentlicht hatte, so auch das Fragment »Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger«. Zum anderen handelt es sich um DAVID FRIEDRICH STRAUSS (1808–1874).

Wenn Schweitzer die beiden Forscher miteinander in Verbindung bringt, dann ist dies durchaus sachgemäß, lassen sich doch in ihren Arbeiten eine Reihe von Berührungspunkten und Gemeinsamkeiten entdecken. Auch hat erst Strauß Reimarus in der Literatur bekannt gemacht. Dem Urteil des Straßburger Privatdozenten zufolge haben Reimarus und Strauß »die Forschung mehr vorwärtsgebracht als alle andern zusammen«. Die Begründung dafür ist die folgende: Ausgehend von der Beobachtung, dass nicht nur jede Epoche ihre Gedanken in Jesus wiedergefunden, sondern auch jeder Einzelne ihn nach der eigenen Persönlichkeit geschaffen habe, führt Schweitzer in der für ihn so typischen gleichnishaften Sprache aus:

»Es gibt kein persönlicheres historisches Unternehmen, als ein Leben-Jesu zu schreiben. Kein Leben kommt in die Gestalt, es sei denn, daß man ihr den ganzen Haß oder die ganze Liebe, deren man fähig ist, einhaucht. Je stärker die Liebe, je stärker der Haß, desto lebendiger die Gestalt, die ersteht. Denn auch mit Haß kann man Leben-Jesu schreiben – und die großartigsten sind mit Haß geschrieben: das des Reimarus, des Wolfenbüttler Fragmentisten, und das von David Friedrich Strauß. Es war nicht so sehr ein Haß gegen die Person als gegen den übernatürlichen Nimbus, mit dem sie sich umgeben ließ und mit dem sie umgeben wurde. Sie wollten ihn darstellen als einen einfachen Menschen, ihm die Prachtgewänder, mit denen er angetan war, herunterreißen und ihm die Lumpen wieder umwerfen, in denen er in Galiläa gewandelt hatte. Weil sie haßten, sahen sie am klarsten in der Geschichte.«

Und wiederum auf beide Forscher bezieht Schweitzer den Wehespruch Jesu aus Mt 18,7: »Es muss ja Ärgernis kommen; aber wehe dem Menschen, durch welchen das Ärgernis kommt.« Mit der Verwendung dieses in einen apokalyptischen Kontext gehörenden Wortes, wonach das Kommen der endzeitlichen Wehen in Gottes Heilsplan verankert sei, will Schweitzer in pointierter Weise zum Ausdruck bringen: Zweifel, Kritik und Ketzerei sind notwendig für den religiösen und geistigen Fortschritt. Doch wer an den Grundfesten der Religion rüttelt – mag er dies auch in der besten Absicht tun, hierdurch der Wahrhaftigkeit der Religion zu dienen –, muss negative Folgen für seine Person gewärtigen. Jedenfalls dann, wenn er damit ins Licht der Öffentlichkeit tritt. Und in diesem Punkt besteht der entscheidende Unterschied zwischen Reimarus und Strauß. Schweitzer kontrastiert beider Schicksal mit den Worten:

»Reimarus entging dem Wehe, indem er das Ärgernis zeitlebens für sich behielt und schwieg. [...] Aber an Strauß, der als Siebenundzwanzigjähriger das Ärgernis der Welt preisgab, erfüllte sich der Fluch. Er ging zugrunde an seinem Leben-Jesu; aber er hörte nicht auf, stolz darauf zu sein, obwohl ihm alles Unglück von dorther kam. ›Ich könnte meinem Buche grollen‹, schreibt er 25 Jahre später in der Vorrede zu den Gesprächen von Ulrich von Hutten, ›denn es hat mir (von Rechts wegen! rufen die Frommen) viel Böses getan. Es hat mich von der öffentlichen Lehrtätigkeit ausgeschlossen, zu der ich Lust, vielleicht auch Talent besaß; es hat mich aus natürlichen Verhältnissen herausgerissen und in unnatürliche hineingetrieben; es hat meinen Lebensgang einsam gemacht. Und doch, bedenke ich, was aus mir geworden wäre, wenn ich das Wort, das mir auf die Seele gelegt war, verschwiegen, wenn ich die Zweifel, die in mir arbeiteten, unterdrückt hätte – dann segne ich das Buch, das mich zwar äußerlich schwer geschädigt, aber die innere Gesundheit des Geistes und Gemüts mir, und ich darf mich dessen getrösten, auch manchem anderen noch, erhalten hat.‹«

Damit wird übrigens unmittelbar die leitende Fragestellung unserer Tagung berührt: »Führt Wahrhaftigkeit zum Unglauben?« Soviel dürfte bereits hier deutlich geworden sein: Die Wahrhaftigkeit darf nicht um eines wie auch immer verstandenen Glaubens willen unterdrückt werden, da ich anderenfalls nicht vor mir und vor anderen und letztlich auch nicht vor Gott selbst bestehen könnte. Es stellt sich also das Problem, ob Wahrhaftigkeit notwendigerweise zum Unglauben führen muss oder ob gelebte Wahrhaftigkeit den glaubenden Menschen stets von Neuem herausfordert, seinen Glauben zu durchdenken und zum Ausdruck zu bringen. Dies wollen wir im Blick behalten, wenn wir uns im Folgenden mit dem methodischen Ansatz und den Ergebnissen von Strauß’ »Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet« näher beschäftigen, welche Schweitzer dazu bewogen haben, Strauß als »Prophet[en] einer kommenden Wissenschaft« zu bezeichnen.