Sapere aude!

 

Leseprobe aus:

Albert Schweitzer
als liberaler Theologe

 

Die Printfassung enthält Fußnoten

Predigten

Von Albert Schweitzer sind aus seiner Straßburger Zeit als Vikar an St. Nicolai von 1898 bis 1913 und von 1918 bis 1921 – dazwischen liegen die Jahre seiner ersten Wirksamkeit als Arzt im Tropenspital von Lambarene und seiner Kriegsgefangenschaft in Afrika und Frankreich – rund 400 Predigtmanuskripte oder -abschriften erhalten. Hinzu kommen noch einige wenige aus späterer Zeit. Bis vor kurzem war nur eine kleine Auswahl greifbar – und zwar in den beiden als Taschenbüchern erhältlichen Bändchen: »Straßburger Predigten« und »Was sollen wir tun? 12 Predigten über ethische Probleme«. Nun aber liegen in einem voluminösen Band innerhalb der Nachlassausgabe sämtliche vorhandenen Predigten Schweitzers im Druck vor, ediert von Richard Brüllmann und Erich Gräßer. Nicht aufgenommen sind Skizzen, zu denen es eine ausführliche Predigt gibt oder die lediglich aus Stichwörtern und unvollständigen Sätzen bestehen. Ferner bleiben unberücksichtigt Schweitzers Spitalpredigten und Abendandachten in Lambarene, die lediglich in Nachschriften existieren. Somit enthält der Predigtband 332 Predigten.

Welch einen hohen Stellenwert Schweitzer dem Predigen für seine Person einräumte, zeigt sich darin, daß er, obwohl er gerne dem Rat seines Straßburger Lehrers THEOBALD ZIEGLER gefolgt wäre, sich an der philosophischen Fakultät zu habilitieren, sich für eine theologische Habilitation entschied. In seiner Autobiographie bemerkt er: »Ziegler deutete mir nämlich an, daß man nicht gern sehen würde, wenn ich als Privatdozent der Philosophie mich zugleich als Prediger betätigte. Nun war mir das Predigen aber ein innerliches Bedürfnis. Ich empfand es als etwas Wunderbares, allsonntäglich zu gesammelten Menschen von den letzten Fragen des Daseins reden zu dürfen.«

Zweifellos hat Schweitzer die Kunst beherrscht, selbst tiefe religiöse Gedanken schlicht und verständlich auszudrücken und dadurch Menschen aus den unterschiedlichsten Bildungsschichten zu erreichen. Seine Predigtweise ist sehr persönlich. So lässt er in seine Predigt eigene Erfahrungen und Erlebnisse einfließen. Dazu kommt, dass er die Gemeindeglieder mit »ihr« anredet und sich selbst häufig in ein gemeinschaftliches »wir« mit einbezieht. Die Ausstrahlungskraft seiner Predigten dürfte zum einen damit zusammenhängen, dass diese – wie er sagt – einen Gedanken des Evangeliums entfalten, »den wir lebendig aus unserm Leben herausgerissen haben«, so dass dieser »auch in andern Leben werden« kann (Predigten 1898–1948, 739). Zum anderen sind es die eindrücklichen Bilder und Metaphern, die überzeugen.

Als für unsere Zeit besonders wegweisend hat Schweitzers bewusster Verzicht auf dogmatische Lehrformeln zu gelten, die bis in die heutige Predigtpraxis hinein gerade an den kirchlichen Feiertagen Verwendung finden. Pointiert drückt er dies so aus: »Nur was du wirklich selber denkst und empfindest, ist deine Religion. Gar oft sind überlieferte Worte nur dazu da, uns mit ihrem Schall über unsere innere Armut hinwegzutäuschen, und wir riskieren fort und fort, daß es uns ergeht wie manchen alten Handelshäusern, die auf ihre Solidität bauen und immer Werte auf dem Papier mit weiterführen, die sich bei einem richtigen Inventar als nicht mehr vorhanden erweisen würden.« (826)

Als ein der Wahrhaftigkeit kompromisslos verpflichteter Prediger erklärt Schweitzer in aller Klarheit, dass das Weltbild Jesu für uns hinfällig geworden ist: »Wir rechnen nicht mehr mit dem nahen Weltende und einem direkten Eingreifen Gottes in das Geschehen [...]« (1039). Die Vorstellung von dem unmittelbar durch Gottes Handeln herbeigeführten Reich ist abgelöst worden durch die von dem durch Arbeit des Menschen zu verwirklichenden Reich (1088). Im Blick auf das Ostergeschehen geht es Schweitzer nicht um das Mirakel einer leiblichen Auferstehung, sondern darum, dass Jesu Geist »sich in vielen Menschen lebendig erwies, und ich selber fühle, wie er bei mir zum Leben gelangen will« (1154). Und so kann er formulieren: »Es ist, als ob Jesus selber der Menschen bedürfte, um in uns zur Herrschaft zu gelangen. Seine Worte sind für uns Leben geworden durch Menschen, in denen sie Leben waren, und er selber lebt in uns durch die, die in ihm lebten und uns berührten, daß sich unser Geist an dem ihren entzündete.« (ebd.) Aber nicht nur Schweitzers Christologie, sondern auch seine Weise, vom heiligen Geist zu sprechen, ist nicht eine, wie man sie aus den theologischen Lehrbüchern der Dogmatik kennt. Während die alte Christenheit glaubte – man denke nur an die lukanische Pfingstgeschichte –, der heilige Geist »falle vom Himmel über den Menschengeist«, glaubt Schweitzer, »daß er aus den Tiefen desselben aufsteigt, und daß er natürlich da ist, wenn man nur tief genug geht. Alles, was rein und wahr und erhebend und belebend ist, ist heiliger Geist. Es gibt keine Kluft zwischen natürlichem und heiligem Geist, sondern der eine geht in den andern über.« (1130)

Im Blick auf das Angeführte erscheint Schweitzers Äußerung über den Sonntag Trinitatis nur folgerichtig: »Man hat ihn früher zu den großen Festtagen gerechnet, weil er der Lehre von der Dreieinigkeit geweiht ist. In unserer Kirche hat man das Fest der inneren Mission darauf verlegt, weil man sich wohl gesagt hat, daß es notwendiger ist, unserer Zeit von den Aufgaben, die ihrer harren, zu predigen als von einer Lehre, die uns so, wie sie in alter Zeit in Formeln gegossen worden ist, nicht mehr viel sagen will.« (840, Anm. 21) Jedoch bleibt Schweitzer bei dieser rationalen Überlegung nicht stehen, vielmehr kann er als Theologe in der Trinitätslehre noch »etwas wunderbar Tiefes« entdecken, das ihr zugrunde liege: »Auf der Welt sind sich drei Reiche der Wahrheit gefolgt: Das Reich des Vaters im Alten Testament, wo das Geistige in die Welt hineinleuchtet von ferne, das Reich des Sohnes, wo es lebendig unter die Menschen tritt, das Reich des Geistes, wo es in den Menschen wirkt und webt und wo der Geist aus ihnen heraus redet.« (ebd.)

Was die Predigten Schweitzers wie ein roter Faden durchzieht, ist die immer wieder von neuem vollzogene Verbindung von Denken und Glauben bzw. Frömmigkeit. Die Predigten sind getragen von einem tiefen Gottvertrauen – einem Gottvertrauen »von Geist zu Geist, das dahingestellt sein läßt, nach welchem Plane sich die Dinge, in die unser Leben hineingezogen wird, abspielen, das sich fast mit dem Gedanken vertraut machen kann, daß wir der Willkür der Ereignisse ausgeliefert sind, weil es sich daran hält, daß unser Geist in dem Geiste Gottes die Kraft findet, alles was kommt zu überwinden« (891). Und auch dies ist ein charakteristischer Zug des Predigers Schweitzer: bei aller Liberalität in Glaubensfragen der hohe Stellenwert von Kirche und Gottesdienst. Den Satz, man könne »ein guter Christ werden und sein, ohne in die Kirche zu gehen«, brandmarkt Schweitzer als einen »grundfalsche[n] Satz; wer ihn ausspricht, der weiß gar nicht, was wahres Christentum ist. Er meint, es sei, so einige Sätze für wahr zu halten, ihnen zuzustimmen, aber das Christentum ist inneres Leben! Und dieses Leben entwickelt sich nur, wenn man allsonntäglich aufs neue in der christlichen Gemeinde sich versammelt und allsonntäglich Gottes Wort hört.« (380)