Sapere aude!

Leseprobe aus:


Rudolf Bultmann
Briefe an Hans von Soden, Briefwechsel mit Philipp
Vielhauer und Hans Conzelmann

Werner Zager (Hg.)

Die Printfassung enthält Fußnoten.

Rudolf Bultmanns Briefe an Hans von Soden:
Zwischen liberaler und dialektischer Theologie, 1920–1934

Nachdem Rudolf Bultmann zum Wintersemester 1916/17 den Ruf auf das Extraordinariat
für Neues Testament an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität in
Breslau angenommen hatte, wurde 1918 auch Hans Freiherr von Soden Extraordinarius
an dieser Universität – und zwar für das Fach Kirchengeschichte. Zwischen beiden
Gelehrten entwickelte sich eine enge persönliche Freundschaft, die bis zu von
Sodens frühem Tod im Jahr 1945 währte. Davon zeugt ein umfangreicher Briefwechsel
zwischen den beiden Freunden – einsetzend mit Bultmanns Weggang von Breslau
und dem Antritt seiner Professur an der Großherzoglich Hessischen Ludwigs-Universität
in Gießen im Wintersemester 1920/21. Während die häufig recht ausführlich gehaltenen
Briefe Bultmanns an von Soden erhalten geblieben sind, befinden sich im
Bultmann-Nachlass aus der Feder von Sodens außer zwei Briefen nur eine Reihe von
Postkarten und Ansichtskarten, die meist mit Urlaubsreisen in Verbindung stehen. Die
übrigen Briefe von Sodens an Bultmann sind leider nicht mehr erhalten. Bultmanns
Briefe an von Soden stammen hauptsächlich aus der Gießener Zeit, die lediglich zwei
Semester währte, und den Anfangsjahren in Marburg bis zur Berufung von Sodens
im Jahr 1924 an die Philipps-Universität Marburg. Dort wurde er Nachfolger von Adolf
Jülicher auf dem Lehrstuhl für Neues Testament und Kirchengeschichte, verbunden
mit einem Lehrauftrag für christliche Archäologie, wobei von Soden darüber hinaus
noch Vorlesungen über Kirchenrecht hielt.

Die Briefe Bultmanns an von Soden gewähren wichtige Einblicke in das Leben der
jungen Bultmann-Familie und in Bultmanns Erfahrungen mit Kollegen und Studierenden
innerhalb der beiden theologischen Fakultäten von Gießen und Marburg. Von daher
überrascht es nicht, dass Konrad Hammann in seiner magistralen Bultmann-Biographie
sich vielfach auf diese Briefe bezieht. Hier begegnen wir dem Ehemann und
Vater, der sich um das gesundheitliche und seelische Wohlergehen seiner Frau und
seiner Kinder kümmert. Ausführlich schildert Bultmann die geistige und körperliche
Entwicklung seiner beiden in Breslau geborenen Töchter, war doch von Soden der
Patenonkel der zweiten Bultmann-Tochter Gesine. Dabei kommt Bultmann auch auf
die religiöse Erziehung zu sprechen. Weiter hören wir von seinem Klavierspiel und
dem gemeinsamen Musizieren und Lesen mit seiner Frau. Nicht zuletzt beeindrucken
Bultmanns Schilderungen seines Naturerlebens in den verschiedenen Jahreszeiten.
Neben dem Austausch über eigene Veröffentlichungen, Lektüreeindrücke und die jeweilige
Fakultätspolitik spielt die Neubesetzung des Marburger Lehrstuhls von Adolf
Jülicher eine besondere Rolle in Bultmanns Briefen, da sich dieser sehr engagiert für
die Berufung von Sodens eingesetzt hatte, was auch schließlich zum gewünschten Erfolg führte.

Was die theologische Entwicklung Bultmanns betrifft, so ist das in seinen Briefen an
von Soden zum Ausdruck kommende Ringen um das Gegen- und Miteinander von liberaler
und dialektischer Theologie von hohem Interesse. Dass für Bultmann die Hinwendung
zur dialektischen Theologie nicht die grundsätzliche Loslösung von der liberalen
Theologie seiner theologischen Lehrer bedeutete, lassen seine Briefe an von
Soden klar erkennen. Nur so wird auch der intensive theologische Austausch mit dem
Harnack-Schüler von Soden verständlich, der zeitlebens ein überzeugter Vertreter liberaler
Theologie blieb.