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Leseprobe aus:

William Wrede
Gesammelte theologische Studien

Bedeutung und Nachwirkung

Wredes Bedeutung als Neutestamentler besteht darin, dass er die Erkenntnisse der historischen Kritik in methodischer Weise verarbeitet und konsequent angewandt hat [1], dass er ferner durch seine traditionsgeschichtliche Arbeitsweise der späteren Redaktions- und Formgeschichte den Boden bereitet hat.

In seinen eigenen Forschungen suchte Wrede umzusetzen, was er vom wissenschaftlich arbeitenden Exegeten verlangte:  „Ein reines uninteressiertes Erkenntnisinteresse, das jedes sich wirklich aufdrängende Ergebnis annimmt, muss ihn leiten. Er muss im Stande sein, eigenes Denken von fremdem, moderne Gedanken von solchen der Vergangenheit zu unterscheiden, er muss vom Objecte der Forschung die eigene, ihm noch so teure Anschauung gänzlich fernzuhalten, sie gewissermassen zu suspendieren vermögen. Denn er will ja nur erkennen, was wirklich gewesen ist.“ [2] Dass es sich dabei um ein Ideal handelt, das stets nur annäherungsweise zu verwirklichen ist, dürfte sich von selbst verstehen.

Auch wenn Wrede den religionsvergleichenden Forschungen aufgeschlossen gegenüberstand, aktiv beteiligte er sich daran nicht.  „Er blieb auf seinem eigensten Gebiet, aber er durchmaß es nach allen Seiten und zeigte immer von neuem, wieviel Möglichkeiten und offene Fragen es hier trotz tausendfältiger Durcharbeitung noch gebe. So bezeugten denn auch die Gegner, selbst die, welche sich durch seine kühnen Gedankengänge auf das tiefste verletzt fühlen mußten, fast ohne Ausnahme ihren Respekt vor dem Ernst und der Gewissenhaftigkeit seiner Forschungen.“ [3]

Von Wredes Publikationen rief bei seinem Erscheinen sein Paulusbuch die größte Resonanz hervor.  „Das hier in aller Schärfe herausgestellte Problem der Differenz von Jesus und Paulus bewegte weit über die Kreise der Universitätstheologie hinaus kirchlich und religiös interessierte Laien.“ [4] Die Auseinandersetzung um Wredes Paulus ist vergleichbar mit dem Streit um das Apostolikum und dem Kampf um die Christusmythe [5].

Das Messiasgeheimnis in den Evangelien nahm nicht nur Einsichten der Redaktionskritik vorweg, sondern darüber hinaus bezieht sich auch eine Vielzahl von Untersuchungen zur Theologie des Markusevangeliums bis in jüngste Zeit auf dieses Wredesche Opus sei es daran anknüpfend oder sich davon abgrenzend (vgl. etwa James L. Blevins, The Messianic Secret in Markan Research, 1901-1976, Washington, DC 1981).

Wenn es auch mehr als hundert Jahre dauerte nicht zuletzt bedingt durch den theologischen Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg , so wurde nun endlich 1999/2000 durch Gerd Theißen Wredes Programm einer urchristlichen Religionsgeschichte realisiert (Gerd Theißen, A Theory of Primitive Christian Religion, London 1999; dt.: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000) [6].

Gegenwärtig wird Wredes in einem Brief an die Verleger Gustav und Wilhelm Ruprecht vom 18.2.1906 [7] ausgesprochenes Desiderat nach einer  „zeitgemäßen Erneuerung“ von Johann Jakob Wettsteins Novum Testamentum Graecum erfüllt (Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus, hg. v. Georg Strecker † u. Udo Schnelle, Berlin / New York 1996 ff.).

Berücksichtigt man den Umstand, dass auch Wredes sonstige Veröffentlichungen in der neueren Forschung stets von neuem herangezogen werden, behält Hans Lietzmann mit seinem Urteil Recht,  „daß jedes von diesen schmalen Büchern einen vollen Gewinn für die Wissenschaft bedeutet hat, und daß es infolge seiner Eigenart auch nicht veralten kann“ [8].

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1.  Vgl. Georg Strecker, William Wrede. Zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages, in: ZThK 57 (1960), S. (67-91) 84 = ders., Eschaton und Historie. Aufs., Göttingen 1979, S. (335-359) 352.

2.  WILLIAM WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, Göttingen 1897, S. 10.

3.  WILHELM BOUSSET, William Wrede. Zur zweiten Auflage von Wredes „Paulus“, in: William Wrede, Paulus (RV I,5-6), Halle an der Saale 2. Aufl. 1907, S. 6*.

4.  WOLFGANG WIEFEL, Zur Würdigung William Wredes, in: ZRGG 23 (1971), S. (60-83) 60.

5.  Ebd.

6.  Vgl. dazu meine Rezension, in: ThLZ 126 (2001), Sp. 274-322.

7.  Vgl. HANS ROLLMANN / WERNER ZAGER (Hg.), Unveröffentlichte Briefe zur Problematisierung des messianischen Selbstververständnisses Jesu, in: ZNThG / JHMTh 8 (2001), S. (274-322) 318-320.

8.  HANS LIETZMANN, William Wrede, in: Biographisches Jahrbuch für die Altertumswissenschaft, begr. v. Conrad Bursian, hg. v. W. Kroll, 30. Jg. (1907), S. (104-110) 105.