Sapere aude!

Leseprobe aus:

Wie frei ist unser Wille?


Resümee

1.  Die von Paulus im Römerbrief prägnant formulierte Erfahrung, dass wir zwar das Gute wollen, aber das Böse tun, das wir (eigentlich) nicht wollen, ist eine Wahrheit, die sich (leider) immer wieder bestätigt.

2. Dagegen gehört die Vorstellung vom Sündenfall des ersten Menschenpaars und des daraus resultierenden Sünden- und Todesverhängnisses ins Reich antiker Mythologie, ebenso die Rede von der Sünde als einer den Menschen versklavenden Macht.

3.  Der bei Paulus begegnende Gedanke einer doppelten Prädestination, gemäß der Gott die einen zum ewigen Heil, die anderen zur Vernichtung oder ewigen Verdammnis bestimmt, hat zwar innerhalb der Geschichte der Kirche immer wieder Anhänger gefunden, konnte sich aber zu Recht nicht durchsetzen.

4.  Aufgrund der Ergebnisse der Psychoanalyse und der modernen Hirnforschung dürfte es nicht möglich sein, die Position des Libertarismus zu vertreten, d.h. die Auffassung, dass die Entscheidungsfreiheit des Menschen in keiner Weise beschränkt ist. Dennoch ist dem frühen Augustin darin zuzustimmen, dass wir nur unter Voraussetzung einer willentlichen Zustimmung für unsere Taten zur Rechenschaft gezogen werden können – ob nun von einem menschlichen oder göttlichen Gericht.

5.  Soll der als Geschenk verstandene Glaube nicht zu einer „Zwangsbeglückung“ verkehrt werden, ist von entscheidender Bedeutung, dass dieser angenommen oder auch abgelehnt werden kann. Auch hierin ist dem frühen Augustin zuzustimmen; kann es doch nur so Religions- und Gewissensfreiheit geben.

6.  Es spricht für die Menschenkenntnis Luthers (und natürlich auch für die seiner theologischen Gewährsmänner), wenn für ihn der Wille eines Menschen bestimmender ist als dessen Vernunft oder Verstand.

7. Bei Erasmus besticht die undogmatische Haltung in der Frage der Willensfreiheit, insofern er sich für bessere Einsicht offen zeigt. Luthers Polemik kann dagegen nicht überzeugen.

8.  So ansprechend Luther in hellen Farben die Freiheit eines Christenmenschen zum Ausdruck bringen konnte, so finster und geradezu dämonisch mutet der mit der menschlichen Willensunfreiheit einhergehende allgewaltige und alles prädestinierende Gott an.

9. Im Zuge der Aufklärung stellte sich die Frage der menschlichen Willensfreiheit auch unabhängig von der Heilsfrage und damit vom Gottesbezug. Daraus erwächst für die Theologie die Aufgabe, die in Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften geführten Debatten wahrzunehmen, zu analysieren und die eigene Anthropologie daraufhin kritisch zu reflektieren.

10.   Dabei genügt es nicht, vordergründig Schnittmengen mit der Theologie auszumachen. Vielmehr gehört der eigene theologische Traditionsbestand auf den Prüfstand. Hier muss sich zeigen, was sich – verantwortet vor dem Wahrheitsbewusstsein der Gegenwart – als tragfähig und überzeugend erweist.