Sapere aude!

Leseprobe aus:

Ulrich Neuenschwander
Christologie – verantwortet vor den Fragen der Moderne

Werner Zager (Hg.)

 

Wir hatten bereits Gelegenheit, bei der Gottesnähe und auch bei der Menschenbegegnung darauf hinzuweisen, wie sich die ganze religiöse Beziehung zu Gott und die Mitmenschlichkeit in der Nähe Jesu vereinfachen und konzentrieren. Das Beiwerk fällt einfach ab. Der Kern der Beziehungen tritt rein hervor.

Wir haben auch an diesem Punkt zu sehen, wie der eschatologische Kairos, in dem Jesus zu stehen glaubt, mit dazu beiträgt, all das zu ermöglichen. Da es ums Ganze geht, gibt es einfache Konturen. Da es um das Endgültige geht, fallen weltförmige Rücksichten dahin. Es wird gleichsam das Rechnen auf die ganzen Zahlen reduziert.

Bei solchen Konzentrationen ist es aber dann entscheidend, dass die Reduktion wirklich das Wesentliche trifft, von dem aus das andere einfach abfällt. Wird etwas Skurriles zum Schibboleth gemacht, dann entsteht die Sekte. Wird aber das Tiefste als tragender Grund befreit, dann geschieht Erlösung, und der Mensch kommt zu sich selbst.

Die Reduktion wird an Worten sichtbar wie demjenigen vom Sorgen: Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, dann wird euch alles andere dazugetan werden (eine schlichte Hierarchie, Mt 6,33), oder auch am Doppelgebot der Liebe (Mk 12,18-34). In diesem Gespräch mit dem Schriftgelehrten ist sowohl die Gottesbeziehung wie die Mitmenschlichkeit auf den einfachsten Nenner gebracht.

Gerade in der jüdischen Frömmigkeit, die in der Vielfalt der Observanzen oft kaum mehr zwischen wesentlich und unwesentlich zu unterscheiden vermochte, wirkte solche Reduktion explosiv.

Solche Reduktionsbewegungen sind in der Religionsgeschichte nicht ganz neu und unerhört. Reformationen haben gerne diese Form. So war auch die Konzentration auf das Evangelium in der Reformation ein Konzentrationsprozess auf Wesentliches, ein Abwerfen von Ballast, und solches wird dann als Befreiung empfunden.

Bei Jesus wirkt diese Konzentration dadurch besonders, weil sie mit einer so selbstverständlichen Schlichtheit und Tiefe erfolgt, dass oft keine andere Reaktion übrigbleibt als diejenige des Schriftgelehrten (Mk 12,32). Es ist wie das Ei des Kolumbus, es fällt wie Schuppen von den Augen: Wahrlich, Meister, das hast du trefflich gesagt!