Leseprobe aus:
Mut zum eigenen Denken
Immanuel Kant – neu entdeckt
Werner Zager (Hg.)
Immanuel Kant (1724–1804) hat eine neue Epoche des Denkens eröffnet, indem er den Menschen ermutigte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Dabei lässt Kants Denken keinen Bereich menschlicher Erfahrung aus. So widmete sich Kant den Fragen der Metaphysik/Religion, Ontologie und Kosmologie, der Erkenntnistheorie und Logik sowie der Grundlegung der Moral.
Die von Kant gestellten menschlichen Grundfragen sind uns auch weiterhin – wohl mehr denn je – aufgegeben, denkerisch und lebenspraktisch zu beantworten: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?«
Von den genannten Fragen lassen sich auch die einzelnen Vorträge leiten, die im vorliegenden Band gesammelt sind. Diese haben dann ihr Ziel erreicht, wenn sie uns nicht nur mit Kants Gedanken vertraut machen, sondern uns auch dazu anleiten, selbstständig und kritisch zu denken.
(Printfassung enthält Fußnoten.)
Einführende Gedanken
Die Philosophie IMMANUEL KANTs ist eine Herausforderung für unsere Zeit. Von dieser Überzeugung ist die folgende Auseinandersetzung bestimmt.
Dabei geht es nicht allein darum, die kantischen Gedankengänge nachzuvollziehen, sondern auch selbstständig weiter zu denken – und zwar ganz im Sinne des Wahlspruchs der Aufklärung aus Kants Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“:
„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Die Ursachen, warum Menschen nicht ihren eigenen Verstand gebrauchen und damit unmündig bleiben, liegen Kant zufolge in deren Faulheit und Feigheit. Ist es doch bis heute viel bequemer, sich durch eingängige Slogans und gehaltlose Formeln manipulieren zu lassen. Oder mit Kant zu sprechen:
„Es ist bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“
Und dann gibt es natürlich auch in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft solche, die ein Interesse daran haben, dass Menschen unmündig bleiben und nicht ihren eigenen Verstand gebrauchen. Anderenfalls könnte es für sie selbst unbequem werden.
Ohne den einzelnen Beiträgen vorgreifen zu wollen, möchte ich in Auswahl an einigen Punkten kurz aufzeigen, worin sich Immanuel Kant für uns heute als Herausforderung erweist:
1. Religion und Aufklärung
Nach Kant sind alle Versuche, die Existenz Gottes zu beweisen, gescheitert. Ist aber damit jedes Denken über Gott unmöglich? Keineswegs! Zwar können wir mit den Mitteln des reinen Verstandes die Dinge des Glaubens nicht beweisen – übrigens ebenso wenig wie die Dinge an sich –, aber neben der theoretischen, reinen Vernunft gibt es auch eine praktische Vernunft. Und diese vermittelt uns das universale Gefühl, das in allen Menschen verankert ist, dass es einen Gott geben soll. Das besagt der berühmte Satz Kants, er habe das Wissen aufheben müssen, um zum Glauben Platz zu bekommen. Gemeint war damit nicht der Glaube an eine übernatürliche Offenbarung, sondern ein praktischer Vernunftglaube, der die Moral sowie den Glauben an die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele umfasst.
2. Freiheit und Pflicht
Erinnert sei hier an Kants „kategorischen Imperativ“:
„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“
M.E. ist dies nicht anderes als die philosophische Fassung der Goldenen Regel aus der Bergpredigt Jesu:
„Alles, was ihr wollt, dass es euch die Leute tun sollen, das sollt auch ihr ihnen tun, denn darin besteht das Gesetz und die Propheten.“ (Mt 7,12)
Kants kategorischer Imperativ und Jesu Weisung formulieren ein Ideal menschlichen Zusammenlebens. Wenn ich mich diesem Ideal verpflichtet weiß, dann bin ich dem sehr nahe, was die Philosophie Glückseligkeit nennt. Pflicht und Freiheit gehören für Kant zusammen; nur durch sie entsteht der gute Wille, der Wille zum Guten. Und zwar ist eine solche Pflicht gemeint, die aus der inneren Freiheit des Einzelnen erwächst. Es kann keine Pflicht ohne Freiheit geben und keine Freiheit ohne das Bewusstsein der inneren Verpflichtung. In der „Kritik der praktischen Vernunft“ schreibt Kant:
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. ... ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz.“
3. Bildung und Wissenschaft
Nach Kant sind alle Wissenschaften den höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft untergeordnet; gerade darum werden sie in erster Linie um ihrer selbst willen betrieben und nicht nur im Hinblick auf nützliche Anwendungen. Dagegen leben wir heute in einer Zeit, die die Forschung und Lehre an den Universitäten und Hochschulen sowie die Förderung von Bildung und Ausbildung weitgehend dem ökonomischen Denken unterordnet; einer Zeit, die bis in den gymnasialen Lehrerberuf hinein sich einseitig an der Berufspraxis statt in erster Linie an den Bedürfnissen und Fähigkeiten des menschlichen Geistes ausrichtet. In solcher Zeit tut es not, Kant zu lesen, sich auf seine Argumentationen einzulassen und zum eigenen Denken herausfordern zu lassen.
WOLFGANG HUBER, Berliner Bischof und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, bemerkt treffend:
„Kant nach zu denken, bedeutet selbst zu denken. Auf Kants Denken zu antworten, bedeutet, unser heutiges Denken zu verantworten. Und nicht nur das Denken, sondern auch das Handeln.“