Sapere aude!

Leseprobe aus:

Liberale Frömmigkeit?

 Werner Zager (Hg.)

 

Aus dem Beitrag „Fromm und frei“
Beispiele freisinniger Frömmigkeit im 20. Jahrhundert

von Andreas Rössler

 

1.  Christliche Frömmigkeit

„Frömmigkeit“ ist, in einer ersten Umschreibung, das Bezogensein des Menschen auf das Ganze, das Allumfassende, auf das Absolute, auf Gott. Frömmigkeit meint das „Bezogensein auf Transzendenz“.

Das gilt für alle christliche Frömmigkeit wie für Frömmigkeit, die im Rahmen anderer Religionen praktiziert wird. Diese grundsätzliche Bestimmung gilt aber auch für atheistische „Frömmigkeit“, mit dem Unterschied, dass hier „Transzendenz“ nicht formal, wohl aber inhaltlich anders (und zwar kontradiktorisch anders) gefasst ist: In materialistischer bzw. atheistischer Frömmigkeit wird als das wahre Wesen der alles bestimmenden Wirklichkeit nicht Gott als Geist, als unendliches Bewusstsein, als transpersonale Kraft, als schöpferischer Wille verstanden, sondern etwa die Natur oder ein blindes Schicksal.

„Frömmigkeit“ berücksichtigt in einer zweiten, erweiterten Umschreibung, dass der Transzendenzbezug in bestimmten Formen, Praktiken, Ritualen gelernt, eingeübt, wiederholt, festgehalten, gefestigt, immer neu gespeist wird. Frömmigkeit ist demnach das „Bezogensein auf Transzendenz, das in bestimmten Gestaltungen bzw. Formen praktiziert wird“.

Zur Frömmigkeit gehören also „Haltung“ und „Gestaltung“. Das Bezogensein auf Transzendenz ist eine Haltung, deren Praktizierung in bestimmten Formen ist eine Gestaltung. Ohne eine Gestaltung besteht die Gefahr, dass die Haltung verödet, vertrocknet, ja gleich gar nicht zustande kommt.

Frömmigkeit als Haltung und Gestaltung lässt sich unterscheiden einerseits von Glaubensüberzeugung, von bejahten Glaubensinhalten, und andererseits von religiöser Lebensführung, einem im Glauben verankerten Verhalten – unterscheiden, aber im Lebensvollzug nicht abgrenzen. Glaubenslehre, Frömmigkeit und christlich motivierte Ethik stehen unterein­ander in einem engen Zusammenhang. (a) Das Bezogensein auf Gott, das die christliche Frömmigkeit ausmacht, spiegelt das jeweilige Gottesverständnis und damit die jeweils bejahte Glaubenslehre wider. (b) Das Bezogensein auf Gott drückt sich in dem gelebten Leben aus, in den Taten, im Tun und Lassen. Glaubenslehre, Frömmigkeit und Ethik haben also eine große gemeinsame Schnittmenge.

Meint „Frömmigkeit“ generell das in bestimmten Gestaltungen praktizierte Bezogensein auf Transzendenz, so speziell christlich das Bezogensein auf den sich zentral in Jesus Christus kundgebenden Gott. Dabei ist ein Bezogensein im Modus des intensiven Suchens, des wahrhaftigen Nachfragens, ja des ernsthaften Zweifelns nicht ausgeschlossen, sondern mit inbegriffen. Dieses Bezogensein kann auch, da der Zweifel der Schatten, der Begleiter des Glaubens ist, eine tastende, fragende, suchende Ausrichtung sein auf „das, was uns unbedingt angeht“.

Das Bezogensein auf Gott ist kein rein innerlicher Vorgang, weil der Mensch kein rein innerliches Wesen ist. Frömmigkeit ist (a) eine Haltung, eine Grundhaltung, die sich (b) in Gestaltungen entwickelt, die eingeübt werden müssen und die sich wiederholen, in Übungen, Praktiken, Ritualen. Im Christentum aller Konfessionen und Positionen sind (a) Beten, (b) Gottesdienstbesuch bzw. gottesdienstliche Gemeinschaft sowie (c) das Nachdenken über biblische Texte und Gedanken elementare Grundformen der Frömmigkeit. In der Bergpredigt (Mt 5-7) werden unter „Frömmigkeit“ (Mt 6,1: Gerechtigkeit = dikaiosyne) als Grundformen aufgezählt: (a) Almosengeben bzw. Geldspenden (Mt 6,1-4), (b) Beten (Mt 6,6-15) und (c) Fasten bzw. Selbstdisziplin (Mt 6,16-18). Diese Übungen der Frömmigkeit hängen eng mit der Ethik zusammen. Das leuchtet beim Almosengeben spontan ein, denn hier geht es darum, mit Armen, Bedürftigen, Schwachen zu teilen. Es legt sich auch beim Fasten nahe, insofern dieses zum Dienst tüchtig machen soll, und beim Beten, insofern wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere beten.

Beim Beten ist auch an ein Beten ohne Worte zu denken, eine Nachdenklichkeit vor Gott im Sinne des „Betet ohne Unterlass“ (1Thess 5,17). Formen der Meditation, in denen das Nachdenken über ein Bibelwort oder einen geistlichen Gedanken, die disziplinierte Körperhaltung und das gezielte Atmen konstitutive Bestandteile sind, lassen sich im weiteren Sinn auch als eine Art des Betens verstehen.

Die Bergpredigt warnt davor, anderen Frömmigkeit vorzuspielen, um vor ihnen gut dazustehen. Frömmigkeit muss redlich und echt sein. Sie darf nicht heuchlerisch werden.

Frömmigkeit als Bezogensein auf Transzendenz äußert sich in einem geistigen Gestimmtsein, das sich dann im konkreten Verhalten auswirkt. Zu denken ist hier insbesondere an Ehrfurcht, Dankbarkeit, Bescheidenheit gegenüber dem immer größeren Daseinsgrund, Staunen über das Dasein, Gefühl des Verbundenseins mit allen Mitgeschöpfen. Bei Friedrich Schleiermacher (1768–1834), dem „Kirchenvater des freien Protestantismus“, dominierte hier das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“, und das war auch der Ansatzpunkt seiner Theologie.

Frömmigkeit als in bestimmten Formen praktiziertes Bezogensein auf Gott kann (a) echt, authentisch sein, oder aber bloß geheuchelt. Sie kann (b) intensiv, stark sein, oder aber bloß lau, schwach. Sie kann (c) zum Guten aktivieren, zu Gerechtigkeit und Liebe motivieren, oder aber benebeln, vertrösten. Sie kann (d) wahrheitsbezogen sein, oder aber irregeleitet, denken wir nur an Formen völkischer, nationalistischer, faschistischer Frömmigkeit mit entsprechenden Ersatzgöttern als Bezugspunkten.

Beim Thema „Frömmigkeit“ darf man die Wahrheitsfrage nicht außer Acht lassen. Schließlich will man sich im „Bezogensein auf Transzendenz“ keinen Illusionen hingeben, sondern auf den wahren Daseinsgrund, den wahren Gott gerichtet sein. Frömmigkeit will sich ja auf die Transzendenz als den Inbegriff und die Quelle der Wahrheit ausrichten. Dabei braucht man allerdings einen Maßstab für die geglaubte Wahrheit. Ein formaler Maßstab ist sicher das ontologische Argument Anselms von Canterbury (um 1033–1109): Gott ist „das, als das nichts Höheres gedacht werden kann“, oder noch weiter gefasst: Gott ist „das, als das nichts Höheres ist“.

Wie verhält sich „Frömmigkeit“ zu „Spiritualität und zu Religiosität“? Das sind Definitionsfragen. Man sollte hier eher beschreiben als definieren. Im Allgemeinen werden „Frömmigkeit“ und „Religiosität“ weitgehend gleichbedeutend gebraucht. Nur berücksichtigt Frömmigkeit stär­ker auch die Formen, die Gestaltungen, in denen sich der Transzendenzbe­zug ausdrückt.

Auch von „Frömmigkeit“ und „Spiritualität“ ist häufig fast bedeutungsgleich die Rede, aber wieder so, dass in der „Spiritualität“ die Frage der Gestaltungen zurücktritt. „Spiritualität“ kann aber auch noch weiter verwendet werden, als „Geistigkeit“, indem etwa von der Spiritualität einer bestimmten Kultur wie der indischen oder einer bestimmten Epoche wie der Aufklärung oder der Romantik die Rede ist.

(Die Printfassung enthält Fußnoten.)