Sapere aude!

Leseprobe aus:

Ich und Du – Mensch und Gott
Im Gespräch mit Martin Buber

Werner Zager (Hg.)

 

Aus dem Vorwort

Martin Buber (1878–1965) gilt weithin als der wichtigste deutschsprachige Geisteswissenschaftler jüdischen Glaubens im 20. Jahrhundert. Sein Wirken war bestimmt vom unermüdlichen Ringen um Verständigung und Versöhnung zwischen christlich und jüdisch geprägten Menschen und Denkweisen einerseits und um den offenen Dialog zwischen weltlicher Philosophie/Ethik und aufgeklärter Religiosität andererseits.

Bubers Charakterisierung von jüdischer und christlicher Glaubensweise wirkt noch heute nach und lädt dazu ein, sich über seinen eigenen Glauben Rechenschaft zu geben. Was die Beschäftigung mit dem geistigen Werk Bubers für uns Menschen in einer säkularen und anonymen Gesellschaft so anziehend macht, ist sein dialogisches Denken: Menschsein bedeutet In-Beziehung-Sein, wobei die Begegnung zwischen einem menschlichen Ich und einem menschlichen Du zugleich offen ist auf Gott als das ewige Du.

Aber nicht nur im Blick auf die religiöse Frage lohnt die Auseinandersetzung mit Buber, sondern auch Ethik und Erziehung in unserer Zeit können sich von Bubers dialogischem Denken inspirieren lassen.

(Printfassung enthält Fußnoten.)

 

Martin Bubers
»Zwei Glaubensweisen«
– eine Prüfung aus christlicher Sicht

(Kapitel 3 in vollem Wortlaut)

MARTIN BUBERs 1950 erschienenes Buch Zwei Glaubensweisen stellt nach wie vor eine Herausforderung für ein der Wahrheitssuche verpflichtetes Christentum dar. In einer Rezension bemerkte einmal der katholische Theologe EUGEN BISER:

»Von ihrer Argumentation her hat die Schrift ›Zwei Glaubensweisen‹ als die härteste Infragestellung zu gelten, die das Christentum i[m 20.] Jahrhundert erfahren hat, hart vor allem deshalb, weil Buber [...] ihm vorwarf, zu einer abkünftigen und, gemessen an der jüdischen, inferioren Glaubensweise herabgesunken zu sein.«

Mag auch Biser etwas überspitzt formuliert haben, darin dürfte er Recht behalten, dass sich eine Auseinandersetzung mit diesem Buch BUBERs von christlicher Seite aus nach wie vor lohnt. Eine solche Prüfung aus christlicher Sicht – wie es im Titel meines Vortrags heißt – werde ich in folgenden vier Schritten durchführen:

In einem ersten Abschnitt werde ich nachzeichnen, wie Buber die beiden Grundformen des Glaubens – Glaube als Vertrauensverhältnis und Glaube als Anerkennungsverhältnis – näher bestimmt hat.

Da Buber auch einfach von der jüdischen Glaubensweise sprechen kann, der er den Glauben Jesu subsumiert, und dieser die christliche Glaubensweise gegenüberstellt, wobei er sich hier besonders auf Texte des Apostels Paulus bezieht, soll in einem zweiten Abschnitt dargestellt werden, wie sich nach Buber Glaube bei Jesus und Paulus zueinander verhalten. Zugleich hat hier eine Prüfung mit Hilfe der historisch-kritisch verfahrenden Bibelwissenschaft einzusetzen.

Weiterhin werden wir in einem dritten Abschnitt die Entstehungsvoraussetzungen der christlichen Glaubensweise im Gespräch mit Martin Buber untersuchen.

Der vierte Abschnitt gilt dem Ansatz einer liberalen Christologie, die sich als Rückbesinnung auf die Judentum und Christentum verbindende eine Glaubensweise begreift.

Zum Schluss soll in Gestalt einiger Thesen ein Resümee gezogen werden.

1.              Emuna und Pistis: Die beiden Grundformen des Glaubens

Zwar hat MARTIN BUBER nur das Judentum und das Christentum im Blick, allenfalls noch den Islam, dennoch setzt er ganz grundsätzlich an, wenn er im Vorwort schreibt:

»Es stehen einander zwei, und letztlich nur zwei, Glaubensweisen gegenüber. Wohl gibt es eine große Mannigfaltigkeit von Inhalten des Glaubens, aber ihn selbst kennen wir nur in zweierlei Grundform. Beide lassen sich von schlichten Tatsachen unseres Lebens aus anschaulich machen: die eine von der Tatsache aus, daß ich zu jemand[em] Vertrauen habe, ohne mein Vertrauen zu ihm zulänglich ›begründen‹ zu können, die andere von der Tatsache aus, daß ich, ebenfalls ohne es zulänglich begründen zu können, einen Sachverhalt als wahr anerkenne.«

Eine solche Unterscheidung von Glaube als Fürwahrhalten und Glaube als Vertrauen wird auch noch in der heutigen Religionswissenschaft vorgenommen, wenn etwa darauf hingewiesen wird, dass das reformatorische sola fide (»allein durch den Glauben« im Sinne von Vertrauen) eine Parallele im japanischen Buddhismus habe und sich bereits in der Vertrauensmystik der Bhagavadgītā zeige.

Lenken wir unseren Blick nun darauf, wie Buber die beiden Glaubensweisen näher entfaltet. Die erste Glaubensweise ist charakterisiert durch ein Vertrauensverhältnis der menschlichen Person in ihrer Ganzheit, das auf dem Kontakt mit dem beruht, dem das Vertrauen gilt. Und da es um Glauben im religiösen Sinne geht, verhält sich der Glaube nicht zu einem nur für den Glaubenden selbst unbedingten »Jemand« oder Sachverhalt, »sondern zu einem auch an sich unbedingten«. Die zweite Glaubensweise ist charakterisiert durch ein Anerkennungsverhältnis und beruht auf einem ganzheitlichen Akt der Akzeptation dessen, was als wahr anerkannt wird.

Festgehalten zu werden verdient, dass aus Bubers Perspektive die beiden so bestimmten Glaubensweisen einander nicht ausschließlich alternativ gegenüberstehen; vielmehr impliziert die eine Glaubensweise in gewissem Maße die andere. Oder mit Bubers eigenen Worten:

»Der Kontakt im Vertrauen führt naturgemäß zur Akzeptation dessen, was von dem ausgeht, dem ich vertraue. Die Akzeptation der von mir anerkannten Wahrheit kann zum Kontakt mit dem führen, von dem sie Kunde gibt. Aber primär ist dort der bestehende Kontakt, hier die geschehene Akzeptation.«

Weiterhin ist Folgendes zu beachten: Wenn Buber die eine Glaubensweise dem Judentum und die andere dem Christentum zuordnet, dann »soll das keinesfalls besagen, daß Juden im allgemeinen so und Christen im allgemeinen so geglaubt hätten und noch glaubten, vielmehr nur, daß der eine Glaube bei Juden und der andere bei Christen seine repräsentative Wirklichkeit gefunden hat«. Wenn Buber also von der jüdischen und der christlichen Glaubensweise spricht, dann handelt es sich um zwei Idealtypen. Damit dürfte auch zusammenhängen, dass er beim Vergleich der beiden Glaubensweisen nur zwei Teilbereiche jüdischer und christlicher Tradition heranzieht: das »den Kern des Pharisäismus« bewahrende palästinische Judentum einerseits und das frühe Christentum, wie es bei Paulus und im johanneischen Schrifttum begegnet, andererseits. Buber erhebt folglich nicht den Anspruch, jüdischen und christlichen Glauben in deren jeweiliger durch geschichtliche Entwicklungen bedingten Komplexität erfassen zu wollen. Jedoch vertritt er offenbar die Auffassung, dass jüdischer und christlicher Glaube in den genannten Traditionsbereichen ihre wesentliche Ausprägung erfahren haben.

Bedingt durch diese Auswahl der jeweiligen Überlieferungsschichten gelangt Buber zu folgender Gegenüberstellung von jüdischer und christlicher Glaubensweise:

»In der einen ›findet sich‹ der Mensch im Glaubensverhältnis, in de[r] andern ›bekehrt er sich‹ zu ihm. Der Mensch, der sich darin findet, ist primär Glied einer Gemeinschaft, deren Bund mit dem Unbedingten ihn mit umgreift und determiniert; der Mensch, der sich zu ihm bekehrt, ist primär ein Einzelner, zu einem Einzelnen Gewordener, und die Gemeinschaft entsteht als Verband der bekehrten Einzelnen.«

Dass es sich hier nicht um einen sich ausschließenden Gegensatz handelt, dessen ist sich Buber bewusst. Um mit ULRICH NEUENSCHWANDER zu reden:

»Auch dem Menschen, der sich ›im Bunde‹ vorfindet, muß das subjektive Bewußtsein zuwachsen. Andererseits stiftet auch die christliche Kirche einen objektiven Bestand, in dem sich der Christ schon vorfindet. Wenn auch der Grundsatz, daß man Christ wird, nicht als Christ geboren werden kann, seit seiner Formulierung durch Tertullian in der Christenheit nie ernsthaft bestritten worden ist, so zeigt doch die Nähe von Kindertaufe und Beschneidung, daß der Gegensatz nicht verabsolutiert werden kann.«

Berücksichtigt man – anders als Buber – auch das Diasporajudentum, das sich stärker als das palästinische Judentum auf die hellenistische Kultur eingelassen hatte, so finden sich hier Belege dafür, dass sich die Rede vom Glauben mit der Bekehrung zum Judentum verbindet. Der Gedanke der Bekehrung ist jüdischem Glauben demnach keineswegs fremd, wenn er auch im Christentum ein weitaus höheres Gewicht als im Judentum erlangt hat. Damit sei allerdings nicht bestritten, dass Buber das Verhältnis vom einzelnen Gläubigen zur Glaubensgemeinschaft innerhalb des Judentums – was die Grundtendenz betrifft – richtig beschrieben hat. Indem Buber die Glaubensaussagen in den synoptischen Evangelien ausblendet, kommt die zwischen alttestamentlich-jüdischer Umwelt und Neuem Testament bestehende Kontinuität in puncto »Glaube« zu kurz. Aber auch hier sei zugestanden, dass Buber das Besondere christlichen Glaubens zutreffend erfasst hat, das in seiner Bindung an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus besteht.

Wie wir aus Bubers Manuskript wissen, beabsichtigte er einmal, seinem Buch den Titel zu geben:

»Pistis und Emuna. Vergleichung zweier Glaubensweisen.«

Mit dem hebräischen Wort Emuna bezeichnet Buber die jüdische Glaubensweise, die »aus einem Urverhältnis zur Gottheit« fließe. Dieser stellt er die christliche Glaubensweise gegenüber, die er mit dem griechischen Begriff Pistis kennzeichnet, worunter er den »als-wahr-anerkennenden ›Glauben‹« versteht.

An dieser Stelle sei noch darauf hingewiesen, dass die Bedeutung des Glaubensbegriffs im Neuen Testament gegenüber dem Alten Testament eine enorme Steigerung erfährt: Während sich im Alten Testament insgesamt 100 Belege für häämin, (glauben) und ämunah (Glaube) finden, kommen die beiden griechischen Äquivalente pisteuein und pistis jeweils 243-mal vor. Wenn auch diese Entwicklung im Frühjudentum vorbereitet ist, so wird ihr Ausmaß »erst als Konsequenz der nachösterlichen Christusbotschaft verständlich«.

 

2.              »Glaube« bei Jesus und Paulus

Was das Glaubensverständnis Jesu betrifft, so gehört dieses dem Urteil BUBERs zufolge ganz ins Judentum hinein. Buber bezieht sich dabei auf ein Jesuswort in Mk 1,15, das er wie folgt übersetzt:

»Erfüllt ist die gesetzte Zeit und genaht die Königschaft Gottes. Kehret um und glaubet an die Botschaft.«

Den Schluss dieses Wortes könne man auch mit »Vertrauet der Botschaft!« wiedergeben.

Während die neutestamentliche Exegese zumeist die Wendung »Glaubt an das Evangelium!« als nichtjesuanisch beurteilt, insofern der Begriff euaggelion, den Buber mit »Botschaft« übersetzt, die christliche Heilsbotschaft bezeichnet, plädiert Buber dafür, lediglich das Wort »Evangelium« und nicht auch das damit verbundene Verb als Zusatz zu betrachten.

Buber bemerkt:

»›Kehret um und vertrauet!‹ klingt nicht bloß völlig echt, der Schluß gewinnt so auch eine eigentümliche, kaum anders zu gewinnende Wucht und Vollständigkeit. Auch hier erscheint dann das Verb im absoluten Sinn. Nicht mehr seinem Wort Glauben zu schenken[,] ruft der Prediger seine Hörer auf: es geht um den zentralen Gehalt der Botschaft selber. Die äonenhaft vorbestimmte Stunde ist gekommen, da die von Urbeginn bestehende, aber bisher latente Königsherrschaft Gottes über seine Welt ihr naht, um sich, wenn sie von ihr ergriffen wird, an ihr zu erfüllen: um sie ergreifen zu können, kehre, hörender Mensch, von deinen Irrgängen zum Wege Gottes um, gehe in die Gemeinschaft mit ihm ein, in der die Allmöglichkeit waltet, und ergib dich seiner Macht.«

Entsprechend der Interpretation Bubers zielte Jesu Verkündigung darauf ab, angesichts der sich in naher Zukunft durchsetzenden Gottesherrschaft den falschen Weg zu verlassen, den Willen Gottes zu tun und sich der Allmacht Gottes anzuvertrauen.

Aber nicht nur in seinem Glaubensverständnis erweist sich Jesus nach Bubers Urteil als im Judentum verwurzelt, sondern auch darin, wie er die Thora zur Sprache bringt. Beides lässt sich ja auch sicherlich nicht voneinander trennen. Die Thora, Gottes Weisung, ist nicht einfach durch die fünf Bücher Mose zum verfügbaren Besitz Israels geworden. Vielmehr geht es dem Jesus der Bergpredigt bei der von ihm intendierten Erfüllung der Thora darum, »das Vernehmen des Wortes auf die ganze Dimension der menschlichen Existenz zu erstrecken«. Jesus erschließt die »Inwendigkeit der göttlichen Forderung«, das heißt den eigentlichen Willen Gottes, der den Menschen im Inneren trifft, damit dieser sich ihm ergibt. Buber denkt hier speziell an die so genannten Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,20-48), in denen – eingeleitet durch ein »Ihr habt gehört, dass (zu den Alten) gesagt wurde« – eine Weisung aus der Thora oder der rabbinischen Überlieferung zitiert wird, welche er durch eine neue Weisung überbietet oder aufhebt – eingeleitet durch »Ich aber sage euch«. Jesus bleibt dann nicht auf dem Sinai, das heißt beim Buchstaben der Thora stehen, sondern er »muss« – wie es Buber ausdrückt – »in den Wolkenraum der Offenbarungsintention vordringen«.

Nach dem bisher Ausgeführten hat Jesus als ein Vertreter der jüdischen Glaubensweise zu gelten. Daran ändert auch nichts seine Kritik an »Gesetzeswerken« – und zwar an solchen, »die man vorgeschrieben findet und so, wie sie vorgeschrieben sind, vollzieht, ohne die in die Vorschrift gehüllte Absicht Gottes zu erkennen und sich handelnd zu ihr zu erheben«. Dieser Kritik Jesu kann nämlich Buber die Kritik der Pharisäer an Gesetzeswerken zur Seite stellen, die ohne Ausrichtung des Herzens auf Gott getan werden.

Dass uns in den Briefen des Apostels Paulus eine völlig andere Stellung zur Thora bzw. zum »Gesetz« begegnet, dies hat Buber zutreffend herausgearbeitet. Bevor wir auf Bubers Analyse näher eingehen, können wir uns das leicht vor Augen führen, wenn wir im Galaterbrief, Kap. 3, V. 23-26 lesen:

»Ehe aber der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz verwahrt, eingeschlossen auf den Glauben hin, der geoffenbart werden sollte. Somit ist das Gesetz [nur] ein Zuchtmeister für uns geworden bis zu Christus, damit wir aus Glauben gerecht gesprochen würden. Nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter einem Zuchtmeister. Denn ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus.«

Aus den Worten des Paulus können wir entnehmen: Als Glaubende unterstehen wir nicht mehr dem Gesetz. Unsere Annahme durch Gott erfolgt nicht aufgrund von Gesetzeswerken, sondern aus dem Glauben – und dieser meint nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, wie etwa in der Jesustradition, das Vertrauen in den gütigen Vatergott, wird er doch näher bestimmt als Glaube an Christus Jesus. Und dies ist nun der entscheidende Punkt für Buber, an dem er die christliche Glaubensweise festmacht. Indem er Jesus und Paulus einander gegenüberstellt, formuliert Buber:

»Jesus fragt wohl danach, für wen er gehalten werde, aber er verlangt nicht, daß man ihn für irgendwen halte. Für Paulus ist eben dies, daß man Jesus mit aller Kraft des Glaubens als den anerkenne, als den er ihn verkündigt, die Pforte zum Heil.«

Dabei beruft sich Buber auf Röm 10,9:

»Wenn du mit deinem Munde Jesus als den Herrn bekennst und mit deinem Herzen glaubst, das Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden.«

Der für Paulus spezifische Glaubensbegriff sei noch an einigen weiteren Texten verdeutlicht: In seiner großen Apologie der endzeitlichen Totenauferstehung im 15. Kapitel des 1. Korintherbriefs gibt der Apostel klar zu erkennen, dass für ihn die Wahrheit des christlichen Glaubens von der Wahrheit der Auferstehung Jesu abhängig ist, die ihrerseits die im Kreuzestod geschehene Sühne verbürgt. Im Wortlaut des Paulus heißt das:

»Ist aber Christus nicht auferweckt worden, so ist euer Glaube nichtig, ihr seid noch in euren Sünden.« (I Kor 15,17)

Der Glaube an das Evangelium – so der Apostel – rettet vor dem Gerichtszorn Gottes und ermöglicht die Teilhabe am ewigen Heil. Und das Evangelium wiederum ist die Botschaft,

»dass Christus für unsere Sünden gestorben ist, nach den Schriften, und dass er begraben und dass er auferweckt worden ist am dritten Tag, nach den Schriften, und dass er dem Kephas erschien, dann den Zwölfen« (I Kor 15,3b-5).

Im Sinne des Paulus können wir sagen:

»Glaube an Jesus ist [...] nicht Glaube an eine andere Gottheit, sondern der Glaube, daß Gott allein in Jesus heilbringend gehandelt und sich geoffenbart hat. Deshalb ist Glaube an Jesus [...] zugleich Glaube an Gott [...], denn es ist der Glaube an den Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat [...]« (Röm 4,24).

Vergleichbar ist das Wort des johanneischen Christus:

»Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat.« (Joh 12,44)

Buber ist daher zuzustimmen, wenn er – ausgehend von Paulus und Johannes – christlichen Glauben als Glaube an die Auferstehung Jesu definiert. Christlicher Glaube sei ein »Daß-Glaube im prägnanten Sinn«, der »die Akzeptation der Tatsächlichkeit eines Vorgangs« meine. Allerdings erschöpft sich christlicher Glaube nicht darin – und dies muss gegenüber Buber eingewandt werden –; christlicher Glaube ist vielmehr zugleich ein Akt des Gehorsams gegenüber Gott und Christus, jedoch nicht gegenüber dem Gesetz (Röm 1,5; 10,16; 16,26; II Kor 10,5), verbindet sich mit Hoffnung und Liebe (I Kor 13,13; I Thess 1,3), erweist sich in der Liebe als wirksam (Gal 5,5 f.) und vermittelt Erkenntnis und ethische Orientierung (I Kor 8,1-6; Röm 14,22 f.).

Wiederum ist Buber darin zuzustimmen, dass ohne den Glauben an die Auferstehung Jesu aus dem Judentum nicht die neue Religion des Christentums entstanden wäre. Die Jesusbewegung hätte ohne den Osterglauben lediglich zu einer »Reformation des Judentums« geführt. Dies ist aber in den Augen Bubers keineswegs gering zu achten, vertritt er doch die Meinung, dass jede echte reformatio genau das will, »was in Jesu ›Ich aber sage euch‹-Sprüchen wohl den stärksten Ausdruck gefunden hat: zur Urreinheit der Offenbarung zurückkehren«.

 

3.              Voraussetzungen der christlichen Glaubensweise

Nun gilt es zu klären, welche Voraussetzungen erfüllt gewesen sein mussten, damit sich die christliche Glaubensweise ausbilden konnte, wie wir sie im paulinischen Christentum vorfinden. Nach BUBER handelt es sich um drei Voraussetzungen:

1.     das messianische Selbstverständnis Jesu im Lichte der deuterojesajanischen Gottesknechtslieder,

2.    die Deutung der sich nach der Kreuzigung ereignenden Visionen als Erscheinungen des Auferstandenen und

3.   die Interpretation des Todes Jesu als Sühnegeschehen.

Im Folgenden werde ich jeweils zuerst die Argumentation Bubers skizzieren und danach diese auf ihre Tragfähigkeit bzw. Schlüssigkeit hin überprüfen.

 

3.1.       Jesu messianisches Selbstverständnis

Unter Berufung auf ALBERT SCHWEITZER und JOACHIM JEREMIAS vertritt BUBER die Hypothese, dass Jesus sich im Lichte der Gottesknechtslieder des Deuterojesajabuches als messianischen Gottesknecht verstanden habe – und zwar nicht nur im Blick auf die dort begegnenden Leidensaussagen, sondern gerade auch in Bezug auf die damit verbundenen Erhöhungsaussagen.

 Vergegenwärtigen wir uns kurz einige zentrale Passagen aus den Gottesknechtsliedern:

»Siehe da mein Knecht, an dem ich festhalte, mein Erwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, dass er die Wahrheit unter die Völker hinaustrage.« (Jes 42,1)

»Ich, der Herr, habe dich in Treuen berufen und bei der Hand gefasst, ich habe dich gebildet und zum Bundesmittler für das Menschengeschlecht, zum Lichte der Völker gemacht.« (Jes 42,6)

»Siehe, mein Knecht wird Glück haben; er wird emporsteigen, wird hochragend und erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten – so entstellt, nicht mehr menschlich war sein Aussehen und seine Gestalt nicht wie die der Menschenkinder –, so wird er viele Völker in Erstaunen setzen, und Könige werden vor ihm ihren Mund verschließen. Denn was ihnen nie erzählt ward, schauen sie, und was sie nie gehört, das werden sie gewahr.« (Jes 52,13-15)

»Um der Mühsal seiner Seele willen wird er sich satt sehen; durch seine Erkenntnis wird er, der Gerechte, mein Knecht, vielen Gerechtigkeit schaffen, und ihre Verschuldungen wird er tragen. Darum soll er erben unter den Großen, und mit Starken soll er Beute teilen, dafür dass er sein Leben in den Tod dahingab und unter die Übeltäter gezählt ward, da er doch die Sünde der Vielen trug und für die Schuldigen eintrat.« (Jes 53,11 f.)

Diese und weitere Aussagen über den Gottesknecht begreift nun Buber als »messianisches Mysterium«, das Jesus um die Zeit des Petrusbekenntnisses auf sich bezogen hätte, wobei das »Motiv der Entrückungen und des Wegs aus verborgenem Leidensdienst zu offenbarem Erfüllungsdienst« einen tiefreichenden Einfluss ausgeübt habe. Und aufgrund einer gewagten Rekonstruktion des Wortes Jesu vor dem Hohenpriester mit: »Ihr werdet den sehen, der ich werden soll« – anstelle von Mk 14,62 –, hält Buber die Annahme für plausibel, dass Jesus »sich seine Person als den zukünftigen Entrückten und sodann zum Erfüllungsdienst Entsandten [...] im Bild der danielischen Vision« vorgestellt habe.

So verlockend es auch erscheinen mag, von hier aus eine Verbindung zu den Visionen der Jünger nach dem Kreuzestod ihres Meisters herzustellen, muss man sich dies doch versagen, da die Bubersche Argumentation nicht zu überzeugen vermag. Denn zum einen führt von dem als christliche Zitatkombination von Dan 7,13 und Ps 110,1 zu beurteilenden Logion Mk 14,62 (»[...] ihr werdet den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels«) kein methodisch gesicherter Weg zu der von Buber angenommenen Fassung des Wortes Jesu vor dem Hohenpriester.

Hinzu kommt zum zweiten, dass das äthiopische Henochbuch, auf das sich Buber bei seiner Konstruktion stützt, den himmlischen Menschensohn zwar als Gesalbten bezeichnet und Aussagen über den deuterojesajanischen Gottesknecht auf ihn überträgt, jedoch von einer Wiederkehr des Menschensohns auf die Erde gerade nichts weiß.

Zum dritten kann Buber das Argument, dass in der ältesten Jesusüberlieferung kein eindeutiger Bezug auf den leidenden Gottesknecht genommen wird, nicht durch den Hinweis auf das Messiasgeheimnis entkräften. Hätte Jesus seinen Auftrag und sein Geschick wirklich im Lichte der Gottesknechtslieder verstanden, dann hätte ein Text wie Jes 53 bei der Ausbildung der Christologie innerhalb des frühen Christentums eine maßgebliche Rolle spielen müssen, was aber nachweislich nicht der Fall gewesen ist.

Dass Jesus sich als Propheten der endzeitlichen Gottesherrschaft verstanden hat, daran gib es innerhalb der neutestamentlichen Forschung keinen begründeten Zweifel; ob er darüber hinaus für sich auch einen messianischen Anspruch erhoben hat, können wir hingegen nicht mit Gewissheit sagen. Immerhin sind das Messiasbekenntnis des Petrus (Mk 8,29) und der Kreuzestitulus (Mk 15,26) Indizien dafür, dass man an Jesus bereits zu dessen Lebzeiten messianische Erwartungen herangetragen hat. Und nur von daher lässt es sich erklären, warum sich die Christen von Anfang an zu Jesus als dem Christus, das heißt dem Messias bekannten.


3.2.     Die Deutung der Ostervisionen als Erscheinungen des auferstandenen Jesus

Es fällt auf, dass Buber an keiner Stelle seines Buches auf die Frage eingeht, welche Bewandtnis es mit den Begegnungen mit Jesus bald nach dessen Kreuzigung auf sich hat.

Vielleicht hat er sich die Geschehnisse nach der Kreuzigung Jesu ähnlich vorgestellt wie der jüdische Gelehrte JOSEPH KLAUSNER (1874–1958) in seinem 1922 in hebräischer Sprache erschienenen Jesusbuch. Klausner zufolge habe Joseph von Arimathäa, der Besitzer des Felsengrabes, in das der Leichnam Jesu gelegt worden war, es für ungebührlich gehalten, »daß ein Gekreuzigter gerade im Grabe seiner Väter ruhe«. Darum habe er am Ausgang des Sabbats den Leichnam im Geheimen herausgeholt und an einem anderen unbekannten Ort begraben. Und weiter lesen wir bei Klausner:

»Daß die Frauen den toten Körper salben wollten, beweist nur, daß weder sie noch die männlichen Jünger Jesu seine Auferstehung erwarteten, die ihnen also auch nicht im voraus von Jesus angekündigt worden sein kann. Nach Markus, dem ältesten Evangelium, fürchteten sich die Frauen, [...] zu erzählen, daß sie das Grab Jesu leer gefunden hätten und daß ihnen ein Engel erschienen sei. Es muß auch erwähnt werden, daß eine der Visionärinnen Maria Magdalene war, der Jesus einst sieben Teufel ausgetrieben hatte – also eine bis zur Grenze des Wahnsinns hysterische Frau. Schließlich konnte sie sich offenbar doch nicht beherrschen und erzählte alles, was sie gesehen hatte. Dann erinnerten sich die Apostel, vor allem Simon Petrus, der Worte Jesu, daß er ›hingehen werde vor ihnen nach Galiläa‹. [...] Danach hatte also Jesus einen besonderen Ort bestimmt, wo er sich mit ihnen treffen würde – natürlich lebend [...]. Aber da er doch nun nicht mehr am Leben war und die Frauen ihre Vision mitgeteilt hatten, erschien er auch den andern, und zuerst dem Petrus, in einer Vision (genau wie später dem Paulus), und zwar auf dem verabredeten Berge in Galiläa. [...] Zweifellos hatten einige der begeisterten Galiläer die Vision ihres Meisters und Messias. [...] Diese Vision wurde als ein beglaubigtes Zeugnis für die Auferstehung Jesu, für seine Messianität und für die Nähe des Gottesreichs die Grundlage des ganzen Christentums.«

Doch ganz gleich, wie auch immer es sich historisch zugetragen haben mag, entscheidend für die Entstehung der christlichen Glaubensweise ist nach BUBER, dass die Jünger ihre Visionen als Erscheinungen des auferstandenen Jesus deuteten und nicht lediglich von einer Entrückung ihres Meisters sprachen. Damit ist – so Buber – ein wichtiger Schritt zur Vergottung Jesu vollzogen. Während das Judentum nämlich die Erwartung der Auferstehung der Toten am Weltende kenne, füge sich die Auferstehung eines Einzelnen nicht in die jüdische Glaubenswelt. So erklärt sich Buber das Bekenntnis des Thomas »Mein Herr und mein Gott« in Joh 20,28 aus der Überlegung: Da kein Mensch einzeln auferstehen könne, sei der ihm begegnende Jesus kein Mensch, sondern ein Gott – genauer: sein Gott wegen seiner persönlichen Bindung an ihn. Damit tritt an die Stelle der »Präsenz des Einen Bildlosen« das »binitarische [das heißt zweieinige] Gottesbild«, »dessen eine, dem Menschen zugekehrte Seite ihm ein Menschengesicht zeigt«. Ganz ähnlich wie im Johannesevangelium verhält es sich übrigens bei Paulus, der bekennt:

»Wenn es wirklich so genannte Götter, sei es im Himmel oder auf Erden gibt – wie es denn viele Götter und viele Herren gibt –, so gibt es doch für uns nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm, und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn.« (I Kor 8,5 f.)

 

3.3.       Die Deutung des Todes Jesu als Sühnegeschehen

So wichtig Jesu messianisches Selbstverständnis und die Deutung der Ostervisionen als Erscheinungen des auferstandenen Jesus mitsamt den damit verknüpften Vorstellungen von Präexistenz, Schöpfungsmittlerschaft, Himmelfahrt und Wiederkunft zum Gericht sind, letztlich geboren wird die christliche Glaubensweise nach Bubers Sicht erst durch die Deutung des Todes Jesu als Sühnegeschehen. Und hier ist es speziell Paulus, der den Zusammenhang von Gesetz, Sünde und Sühne am tiefsten durchdacht hat.

Dabei bezieht sich Buber auf die Argumentation des Apostels im 7. Kapitel des Römerbriefs. Danach ist der Mensch mit einem »Fleisch« behaftet, das ihn nicht das Gute tun lässt, was er will, sondern das Böse, was er nicht will. Das von Gott gegebene, an sich »heilige, gerechte und gute« Gesetz erregt durch das Gebot, nicht zu begehren, selbst die Begierde und ruft damit die Sünde ins Leben, die zum Tod führt. Der Mensch steht unter der Macht der Sünde und kann sich nicht von seinem Todesleib erlösen. »Die Sühnung einer unendlichen Schuld« – so lautet die Lösung des Paulus – »kann niemand als Gott selber bewirken, indem er seinen Sohn, den Christus, das sühnende Leiden auf sich nehmen läßt, so daß alle, die an den Christus glauben, durch ihn erlöst werden.«

Bubers Darstellung des paulinischen Erlösungsglaubens ist als solche korrekt. Exegetisch bleibt noch anzumerken, dass die Sühnetodvorstellung auch abgesehen von den Paulusbriefen im Neuen Testament die vorrangige Deutungsmöglichkeit für den Kreuzestod Jesu ist. Dabei gehört die frühchristliche Deutung des Todes Jesu als Sühnegeschehen in den Kontext hellenistisch-jüdischen Martyriumsverständnisses und ist vermutlich bereits im griechisch sprechenden, judenchristlichen Stephanus-Kreis in Jerusalem ausgebildet worden. Diesen griechisch sprechenden Juden dürfte nämlich einerseits aufgrund ihrer kulturellen und religiösen Herkunft das Martyriumsverständnis vertraut gewesen sein, wie es seinen literarischen Niederschlag in den jüdischen Martyriumsberichten des zweiten und vierten Makkabäerbuchs gefunden hat. Andererseits führten sie Jesu endzeitlich ausgerichtete Botschaft von der Gottesherrschaft weiter, mit der die Relativierung der Mosethora durch den wahren Gotteswillen und die Ablösung des Tempelkults verbunden war. Indem die griechisch sprechenden Judenchristen die Deutekategorie des stellvertretenden Sühnetodes auf Jesu Ende am Kreuz von Golgatha übertrugen, konnten sie dieses nicht als ein der geschichtlichen Stunde verhaftetes Ereignis verstehen. Vielmehr mussten sie im Lichte der Auferstehung Jesu, mit der die Abfolge der eigentlichen Endzeitakte ihren Anfang genommen hatte, Jesu Kreuzestod als endzeitliche, das heißt ein für allemal geschehene Sühne begreifen, weshalb sich für sie auch jede weitere Sühnehandlung im Tempel verboten hat.

Martin Buber bleibt allerdings nicht bei der Skizzierung der paulinischen Sühnetod-Theologie stehen, sondern malt auch deren weiterentwickelte Gestalt, in der sie für die christliche Glaubensweise prägend wurde, eindrücklich vor Augen, wenn er schreibt:

»Damit hat Paulus den Grund gelegt für die Lehre, die freilich erst nach ihm und über sein eignes Ringen hinweg ersteht, die Lehre, in der Christus als eine Person der Gottheit erklärt wird: Gott als der Sohn leidet, um die Welt zu erlösen, die er als der Vater zu einer erlösungsbedürftigen geschaffen und bereitet hat. Die prophetische Konzeption des um Gottes willen leidenden Menschen ist hier der des um des Menschen willen leidenden Gottes gewichen. Das neue Gottesbild ist errichtet, bestimmt, über einem Jahrtausend des Werdens christlicher Völker und einem Jahrtausend ihrer Kämpfe ermächtigend und trostreich zu stehen. Die Frage nach dem Sinn des unverschuldeten Leidens aber ist zum Standort der Freunde Hiobs zurückgeworfen: es gibt kein unverschuldetes Leiden; nur daß nun gelehrt wird, jeder Mensch sei schlechthin schuldig und schlechthin leidenswürdig, könne sich jedoch, den Glauben an das Leiden Gottes auf sich nehmend, durch dieses Leiden loskaufen lassen.«

 

4.      Liberale Christologie: Eine Rückbesinnung auf die Judentum und Christentum verbindende Glaubensweise

Zu MARTIN BUBERs Unterscheidung zwischen einer jüdischen und einer christlichen Glaubensweise, wobei Jesus von Nazareth der jüdischen Glaubensweise zugerechnet wird, finden sich verwandte Überlegungen im Christentum der Aufklärungszeit. Erinnert sei an GOTTHOLD EPHRAIM LESSINGs mit Die Religion Christi überschriebenes Fragment aus dem Jahre 1780, in dem er die Religion Christi und die christliche Religion einander gegenüberstellt:

»Jene, die Religion Christi, ist diejenige Religion, die er als Mensch selbst erkannte und übte; die jeder Mensch mit ihm gemein haben kann; die jeder Mensch um so viel mehr mit ihm gemein zu haben wünschen muß, je erhabener und liebenswürdiger der Charakter ist, den er sich von Christo als bloßem Menschen macht.

Diese, die christliche Religion, ist diejenige Religion, die es für wahr annimmt, daß er mehr als Mensch gewesen, und ihn selbst als solchen, zu einem Gegenstande ihrer Verehrung macht.«

Lessing zufolge kann also ein geschichtliches Verständnis Jesu nicht einfach von den christlichen Bekenntnisaussagen seinen Ausgang nehmen, sondern muss mit Hilfe der historischen Kritik die Quellen befragen. Diese Rückfrage nach dem historischen Jesus führte zur Infragestellung des überkommenen dogmatischen Jesusverständnisses der Kirche. Während man von orthodoxer Seite dagegen immer wieder von neuem in unterschiedlicher Weise Front machte, traten liberale Kreise innerhalb des Protestantismus seit der Aufklärung bis in unsere Tage dafür ein, dass ein wahrhaftiges Verständnis Jesu bei der geschichtlichen Person des jüdischen Propheten der Gottesherrschaft einsetzt.

Eine liberale Christologie nimmt also im Gegensatz zu einer orthodoxen Christologie Jesu Menschsein ganz ernst. Das zeigt sich beispielsweise im Umgang mit Jesu Antwort auf die Frage des reichen Mannes, was er tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen, in Mk 10,17-22. Während Jesu Reaktion auf die Anrede »Guter Meister« mit: »Was nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott allein«, sich schwerlich mit der orthodoxen Zwei-Naturen-Lehre (Jesus ist wahrer Gott und wahrer Mensch) vereinbaren lässt, kann sie zu einem wichtigen Baustein einer liberalen Christologie werden.

Freien Christen ist es daher aus dem Herzen gesprochen, wenn sie bei BUBER in den »Zwei Glaubensweisen« dazu lesen:

»Keine theologische Interpretation vermag die Unmittelbarkeit dieser Aussage abzuschwächen. Sie setzt nicht bloß die große Linie der alttestamentlichen Kunde von der Nichtmenschlichkeit Gottes und der Nichtgöttlichkeit des Menschen auf eine besondre, durch den persönlichen Ausgangs- und Bezugspunkt ausgezeichnete Art fort: sie stellt auch den Vergottungstendenzen der nachaugusteïschen Ökumene, ihrem Durst nach Gottwerden und Gottmachen, die Tatsache des Menschbleibens entgegen. Die Geschichtstiefe des Moments, in dem das Wort gesprochen wurde, ist von der Vergottung aus zu erfassen, die seinen Sprecher nach dem Tode erwartete. Es ist, als wehrte er diese ab: als wehrte er um der Glaubensunmittelbarkeit zu Gott willen, in der er steht und zu der er den Menschen verhelfen will, den Glauben an ihn selber ab.«

So gewiss eine liberale Christologie nicht eine Summe von theologischen Lehrsätzen sein kann, so wenig kann sie darüber hinweggehen, dass Menschen von allem Anfang an in der Begegnung mit Jesus Gott erfahren haben. Sicher nicht nur hier, aber hier in besonderem Maße. Dies braucht aber nicht trennend zwischen Judentum und Christentum zu stehen. ALBERT SCHWEITZER schrieb im Jahre 1934 an den Schriftsteller VICTOR WITTKOWSKI:

»Jesus fusst auf den Propheten. Die Verwerfung Jesu durch seine Landsleute ist ein tragisches geschichtliches Geschehen. Aber das Geistige steht über allem Geschichtlichen, wie die Sterne über den Wolken. Ich als Christ verehre die Propheten. Ein Israelit kann im Geiste auch Jesus als den höchsten Propheten verehren und seinem Geiste dienen ...«

Darin sah SCHWEITZER den »Ausweg aus den verfahrenen Geleisen der Geschichte«.

Die Judentum und Christentum verbindende Glaubensweise wird sich daher nicht im Vertrauen gegenüber dem einen und wahren Gott erschöpfen, sondern sich zugleich in der Treue gegenüber der erkannten Wahrheit erweisen.

Oder, um mit MARTIN WERNER zu sprechen:

»Glauben heißt, der einmal erkannten Wahrheit in der Weise treu bleiben, daß sie für das Denken das Gewicht einer begründeten Voraussetzung erhält und für die praktische Haltung zum Richtung gebenden Motiv wird.«

Glaube verwirklicht sich so als Ehrfurcht vor dem Schöpfergott und als Wille, allem Leben, mit dem wir in Kontakt kommen, ehrfürchtig zu begegnen.

 

5.            Resümee 

Schließen möchte ich mit einigen Thesen, die das aufnehmen, was mir in der Auseinandersetzung mit MARTIN BUBERs Schrift Die zwei Glaubensweisen aufgegangen ist, und entsprechende Konsequenzen für den christlich-jüdischen Dialog ziehen.

1.  Ein liberales Christentum, das den Idealen der Aufklärung verpflichtet ist, weiß sich mit einem liberalen Judentum einig in der fundamentalen Glaubenshaltung der Ehrfurcht und des Vertrauens gegenüber dem einen Gott.

2.  Insofern Bekenntnisaussagen über Jesus nicht als für wahr zu haltende Lehrsätze bzw. Dogmen ausgegeben werden, stehen sie nicht notwendigerweise trennend zwischen Juden und Christen.

3. Genauso wie Jesus von jüdischer Seite als »jüdischer Bruder« (so der Buber-Schüler SCHALOM BEN-CHORIN) geschätzt werden kann, ist es uns umgekehrt als Christen möglich, in den alttestamentlichen Propheten Gottes Willen zu vernehmen.

4.  Der Glaube Jesu verbindet Juden und Christen.

5. Als ein urjüdisches Gebet kann das von Jesus gelehrte Vaterunser nicht nur von Christen aller Konfessionen gebetet werden, sondern es vermag auch eine Brücke zwischen Juden und Christen zu bilden.

6. Für ein freies Christentum sind Jesu Worte in der Bergpredigt von ungemein größerer Bedeutung als christologische Formeln oder trinitarische Spekulationen, denen als solchen ein Selbstwert zugemessen wird. Denn nur ein Glaube, der sich auch im ethischen Verhalten bewährt, trägt wirklich und vermag andere zu überzeugen.

7. Ein liberales Judentum und ein liberales Christentum sind sich möglicherweise näher als die jeweiligen Extreme innerhalb derselben Religion.