Sapere aude!

Leseprobe aus:

Hier stehen wir – können wir auch anders?

Werner Zager (Hg.)

 

1. Für eine evangelische Kirche, die sich als ecclesia semper reformanda, d.h. als eine immer wieder zu erneuernde Kirche, begreift, sollte es sich von selbst verstehen, dass sie ihre Lieder immer wieder daraufhin befragt, ob diese noch Ausdruck zeitgemäßer Frömmigkeit sind – einer Frömmigkeit also, die sich sowohl dem reformatorischen Erbe verpflichtet weiß als auch den sich wandelnden und weiter fortschreitenden Erkenntnissen und Einsichten aus Wissenschaft und Forschung, Welt- und Lebenserfahrung.

2. Von daher sind mit Bedacht vorgenommene Änderungen an älteren Kirchenliedern Zeichen des lebendigen und kritisch-konstruktiven Umgangs mit denselben. Jedoch kann es auch sinnvoll sein, sich von theologisch problematischen Texten zu verabschieden, bzw. von solchen, mit denen sich immer weniger Christen identifizieren können. Zu nennen sind hier insbesondere die traditionellen Passionslieder. Diese sind dann durch neue zu ersetzen.

3. Will man sich in der Kirche gerne gesungene Melodien zunutze machen, erweist es sich als lohnend, für diese neue Texte, auch zu durchaus anderen Themen zu schreiben, als die mit ihnen ursprünglich verknüpft waren.

4. Dadurch wird es im Gottesdienst möglich, sich beim Gemeindegesang auf neue Texte einzulassen, ohne sich gleich eine neue Melodie aneignen zu müssen. Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass neue Melodien kein Recht hätten oder unerwünscht wären. Jedoch ist zu bedenken, dass sich neuere Melodien häufig rasch abnutzen, wenn die musikalische Qualität nicht stimmt.

5. Das Zugrundelegen von vertrauten Melodien bietet die Möglichkeit, der ganzen Gemeinde – unabhängig vom Alter – den Themenkomplex „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ nahezubringen. Darüber hinaus wird es erleichtert, auch Glaubensprobleme im Lied zu artikulieren, die die Gläubigen belasten, wie das Theodizeeproblem oder der Zweifel an Gottes Wirken in der Welt.

6. Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass die Chance alternativer, gerade auch undogmatischer Texte zu vertrauten Melodien für ein neu zu erarbeitendes Evangelisches Gesangbuch genutzt wird. Für das in diesem Monat [im September 2017] in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck eingeführte gemeinsame Beiheft zum Evangelischen Gesangbuch EGplus ist diese Chance – wie meine Durchsicht ergeben hat – leider vertan worden.