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Leseprobe aus:

 Günther Bornkamm
Studien zum Matthäus-Evangelium

Werner Zager (Hg.)

 

Einführung

Trat mit der formgeschichtlichen Methode unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg die Evangelienforschung in ein neues Stadium, so kann dies entsprechend für die redaktionsgeschichtliche Methode in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg behauptet werden. Fragte die formgeschichtliche Methode nach der Bedeutung der ursprünglichen, kleinsten Einheiten der Evangelientradition, nach deren verschiedenen Stileigenschaften und deren jeweiligem »Sitz im Leben«, so richtete sich das Augenmerk der redaktionsgeschichtlichen Methode auf die Endgestalt der Evangelien und die damit verbundene Aussageabsicht.

Wenn es auch gewisse Ansätze bereits bei Martin Dibelius gab, so darf doch Günther Bornkamm als Begründer der redaktionsgeschichtlichen Methode für die Evangelien, insbesondere für das Matthäus-Evangelium gelten. Ohne die Bedeutung der formgeschichtlichen Methode und der mit ihrer Hilfe erzielten Ergebnisse in Frage zu stellen, plädierte er in seinem programmatischen Aufsatz »Die Sturmstillung im Matthäus-Evangelium« aus dem Jahre 1948 dafür, die einzelnen Evangelien auf die theologischen Motive ihrer Komposition hin zu untersuchen. Als gewissenhafter Exeget machte Bornkamm aber auch auf die Gefahr der Überinterpretation aufmerksam, da die Evangelisten häufig nur als Sammler der Tradition unter eher äußerlichen Gesichtspunkten fungiert hätten.

Den methodisch eingeschlagenen Weg setzte Bornkamm 1954 mit seinem Aufsatz »Matthäus als Interpret der Herrenworte« fort, in dem er das jeweilige besondere theologische Profil der synoptischen Evangelien unterstrich. Als Mittel der Evangelisten, um die eigene Theologie zum Ausdruck zu bringen, nannte er neben Komposition: Redaktion, Auswahl, Auslassung und bei Matthäus speziell die Verwendung von Schriftzitaten. Als für die Theologie des Matthäus charakteristisch zeigte er zum einen anhand der Reden in diesem Evangelium die Verklammerung von Ekklesiologie und Eschatologie auf, zum anderen arbeitete er den Zusammenhang zwischen Gesetzesauslegung und Christologie im Matthäus-Evangelium heraus.

Der ebenfalls 1954 veröffentlichte Beitrag »Die Gegenwartsbedeutung der Bergpredigt« lässt die hermeneutische Verantwortung erkennen, der sich Bornkamm als Exeget stellte. Über die historisch-kritische Exegese hinausgehend, setzte er sich mit verschiedenen Auslegungstypen der Bergpredigt konstruktiv auseinander. Worauf es in der Bergpredigt ankommt – und darin erblickte Bornkamm zugleich deren Gegenwartsbedeutung –, sei die Auslegung des Willens Gottes durch Jesus, in der sich einerseits eine Radikalisierung und andererseits eine Vereinfachung der Forderung Gottes vollziehe. Der Theologe Bornkamm verstand die Bergpredigt als Aufruf, in der Bereitschaft des Gehorsams gegenüber Gott offen für die Möglichkeiten zu sein, die dieser uns erschließt.

Was in »Matthäus als Interpret der Herrenworte« in mehr oder minder thetischer Form gesagt worden war, erhielt in dem Beitrag »Enderwartung und Kirche im Matthäus-Evangelium«, der 1956 in der Festschrift für Charles Harold Dodd erschien, seine nähere Begründung und Entfaltung. Bornkamm untersuchte hier zuerst die matthäischen Redenkompositionen hinsichtlich ihrer Verbindung von Eschatologie und Ekklesiologie. Darauf folgten Analysen zum Gesetzesverständnis des Matthäus, zu dessen Christologie und Ekklesiologie.

Bornkamms Beitrag für die Dankesgabe an Rudolf Bultmann von 1964 »Der Auferstandene und der Irdische. Mt 28,16-20« darf als ein Musterbeispiel redaktionsgeschichtlicher Exegese gelten, in dem er die Worte des Auferstandenen in Mt 28,18-20 als Schlüsseltext zum ganzen Evangelium interpretierte. Bornkamm zufolge habe Matthäus in einer doppelten Frontstellung gestanden: einerseits gegen das pharisäische Judentum nach der Zerstörung Jerusalems und andererseits gegen ein hellenistisches Christentum, in dem das Gesetz seine Heilsbedeutung verloren hatte. Den Skopus des matthäischen Sendungsbefehls erkannte Bornkamm darin, dass der Auferstandene die Gebote des irdischen Jesus für seine Kirche verpflichtend mache.

In seinem 1970 zuerst in englischer und dann im gleichen Jahr in deutscher Sprache in der Festschrift für Heinrich Schlier erschienenen Aufsatz »Die Binde- und Lösegewalt in der Kirche des Matthäus« stellte Bornkamm heraus, dass Matthäus mittels der Rahmung der Weisungen für die Gemeindezucht (Mt 18,15-18) durch das Gleichnis vom verlorenen Schaf und die Parabel vom unbarmherzigen Knecht das um der Reinheit der Gemeinde willen notwendige disziplinarische Verfahren nur als eine äußerste Möglichkeit betrachte. Indem Bornkamm die Heimat des Matthäus in Syrien lokalisierte – und damit im Spannungsfeld von Juden- und Heidenchristentum –, gelang es ihm, die Begründung der Kirche auf Petrus und dessen Bevollmächtigung als autoritativer Ausleger der Lehre Jesu in Mt 16,17-19 als »ideale Szene« einsichtig zu machen. Nach Bornkamms Urteil gibt es im Matthäus-Evangelium keine Konkurrenz zwischen der Lehrautorität des Petrus und der Disziplinargewalt der Gemeinde, vielmehr begründe sich diese auf die durch Petrus verbürgte Lehre Jesu.

Mit seiner 1977 auf dem General Meeting der Studiorum Novi Testamenti Societas vorgetragenen Presidential Address »Der Aufbau der Bergpredigt«, der letzten zu seinen Lebzeiten über das Matthäus-Evangelium veröffentlichten Arbeit, schlug Bornkamm gewissermaßen einen Bogen zu seinem grundlegenden Matthäus-Aufsatz von 1948. So erinnerte er zu Beginn an die Entstehung der Redaktionskritik, die auf ihre Weise die formgeschichtliche Arbeit weiterführe. Und wie rund 30 Jahre zuvor wies er auf die Gefahr hin, dass die Redaktionskritik »zu einem Experimentierfeld vager Vermutungen und Hypothesen« werden könne. Dieser durchaus realen Gefahr gelte es methodisch gegenzusteuern. Methodisch ging Bornkamm daher in seinem Vortrag so vor, dass er bei seiner Analyse des Aufbaus der Bergpredigt bei deren durchsichtig disponierten Teilen A (Mt 5,1-48) und C (Mt 7,13-29) einsetzte. Während der Eingangsteil das Himmelreich als Gottes Zuwendung und die Gerechtigkeit als das Tun des Willens Gottes thematisiere, kündige der Schlussteil das eschatologische Gericht über die charismatischen Verführer an. Angesichts der sorgfältig komponierten Teile A und C nahm Bornkamm an, dass der Evangelist auch im Teil B (Mt 6,1-7,12) so verfahren sei. Ausgehend von dessen auf matthäische Redaktion zurückzuführender Rahmung, konnte Bornkamm dann zeigen, dass es sich beim Mittelteil der Bergpredigt um ein »sinnvoll nach der Abfolge der Vaterunser-Bitten disponiertes« Ganzes handele.

Günther Bornkamms wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Matthäus-Evangelium setzte jedoch lange vor seinem programmatischen Aufsatz aus dem Jahre 1948 ein; reicht sie doch zurück bis in die Anfänge seiner akademischen Laufbahn. So bereitete er sich im Sommer 1934 nach seiner Umsiedlung nach Königsberg auf seine Vorlesung über das Matthäus-Evangelium vor, die er nach seiner Habilitation bei Julius Schniewind im Wintersemester 1934/35 hielt. Damit ging einher, dass Bornkamm den Auftrag übernommen hatte, zum einen Erich Klostermann bei der Neubearbeitung seiner Synoptikerkommentare innerhalb der Reihe »Handbuch zum Neuen Testament« zu unterstützen und zum anderen für diese Reihe selbst einen Synoptikerband vorzubereiten. Der junge Privatdozent setzte sein zweistündiges Matthäuskolleg im darauffolgenden Sommersemester 1935 fort, in dem er Mt 9,35-11,30 sowie die Passionsgeschichte auslegte. Wenn Bornkamm in Briefen an Rudolf Bultmann abwechselnd vom »Matthäuskolleg« bzw. vom »Synoptikerkolleg« sprach, dann darf dies als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass ihm der präzise synoptische Vergleich für die Exegese des ersten kanonischen Evangeliums sehr wichtig war. Seiner Königsberger Antrittsvorlesung »Das Wort Jesu vom Bekennen«, gehalten am 13. Februar 1935, lässt ebenfalls Bornkamms Interesse an den Synoptikern erkennen.

Nach dem Entzug der venia legendi hielt Bornkamm im Sommersemester 1937 an der Theologischen Schule Bethel wiederum eine Matthäus-Vorlesung, dieses Mal sogar vierstündig. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg las er im Sommersemester 1946 in Bethel und nach seiner Berufung nach Göttingen im Wintersemester 1946/47 über das Matthäus-Evangelium. Hinzu kam in der ersten Betheler Zeit die Beauftragung durch Bultmann mit der Abfassung eines Synoptiker-Berichts für die Theologische Rundschau, den Bornkamm aber ebenso wenig wie den übernommenen Leben-Jesu-Bericht fertigstellte.

Nicht zuletzt durch die persönlichen Lebensumstände bedingt – 1939 Schließung der Theologischen Schule Bethel, 19391943 Vertretung von Pfarrstellen in Ostpreußen, Münster/Westfalen und Dortmund, anschließend Kriegdienst –, ging es mit dem Synoptikerkommentar nur sehr schleppend voran. Im Mai 1946 war Bornkamm über Einleitung und erstes Kapitel noch nicht hinausgekommen. Und auch nach Übernahme der Herausgeberschaft für das »Handbuch zum Neuen Testament« im Jahre 1949 änderte sich an dieser Situation nichts grundlegend, da andere Veröffentlichungsprojekte in den Vordergrund rückten. Immerhin verfasste Bornkamm zwischen 1948 und 1977 sieben Aufsätze zum Matthäus-Evangelium, die nun im ersten Teil dieses Bandes gesammelt vorliegen. Außerdem sind noch drei Artikel über die Bergpredigt und die Evangelien für die dritte Auflage von »Die Religion in Geschichte und Gegenwart« zu nennen. Am 10. Mai 1971 endlich äußerte Bornkamm in einem Brief an Bultmann die Hoffnung, »mich ohne ausgedehnte andere Abhaltungen den längst fälligen Kommentaren zu Markus und Matthäus zuwenden zu können«. Zu dieser Zeit hatte Bornkamm in Heidelberg ein Forschungsfreisemester; außerdem stand seine Emeritierung am 1. Oktober desselben Jahres in Aussicht. Während der folgenden Jahre widmete Bornkamm seine Arbeitskraft dann ganz dem Matthäuskommentar, während ihm die Kommentierung des Markus-Evangeliums sein Schüler Dieter Lührmann später abnahm. Eine schwere Erkrankung in den letzten Lebensjahren verhinderte die Fertigstellung seines Kommentars zum Matthäus-Evangelium. Die noch von Bornkamm selbst abgeschlossenen Teile sollen und dürfen der Matthäus-Forschung nicht länger vorenthalten werden.

Möge das Verstehen des Matthäus-Evangeliums und seiner Botschaft durch die im zweiten Teil dieses Bandes publizierten Studien Günther Bornkamms entscheidend gefördert werden.