Sapere aude!

 

 

Leseprobe aus:

Glaube und Vernunft in den Weltreligionen

Werner Zager (Hg.)

Die Printfassung enthält Fußnoten.

1. Auch wenn die moderne Biologie immer mehr Gemeinsamkeiten zwischen höher entwickelten Tieren und dem Menschen erkennt, ändert sich im Wesentlichen nichts daran, dass der Mensch sich in besonderem Maße durch das Vermögen der Vernunft vom Tier unterscheidet.

2. Was den Gebrauch der Vernunft betrifft, so kann sie entweder vom Unglauben oder vom Glauben bestimmt werden. Im einen Fall vertraut sie auf ihre Leistungen, im anderen Fall stellt sie sich in den Dienst des Glaubens, der sich der Rechtfertigung aus Gnade verdankt. Dass die Vernunft – um die mythologische Sprache Luthers zu gebrauchen – zur Hure des Teufels werden kann, dafür liefert die Geschichte immer wieder neues Anschauungsmaterial.

3. Mag es auch ein schöner Gedanke Lessings sein, die Menschheitsgeschichte als einen von Gott geleiteten Erziehungsprozess zu verstehen, die geschichtliche Wirklichkeit erweist diese Vorstellung als eine nicht tragfähige Konstruktion. Weder kennt die Religionsgeschichte einen Urmonotheismus, noch trat Jesus als Lehrer der Unsterblichkeit der Seele auf. Allerdings sei damit nicht in Abrede gestellt, dass es innerhalb der einzelnen Religionen sowohl geistige als auch ethische Höherentwicklungen gibt, die zwar immer wieder unterschritten werden, aber an die später auch wieder angeknüpft werden kann.

4. In Kants Vernunftglaube kommt die ethische Verpflichtung christlichen Glaubens klar zum Ausdruck. Eine Reduktion christlicher Religion auf einen reinen Vernunftglauben würde aber letztlich deren Auflösung bedeuten, da sie sich auf geschichtliche Offenbarung gründet.

5. Gegenüber einer Funktionalisierung der christlichen Religion auf die Moral ist mit Schleiermacher zur Geltung zu bringen, dass die Frömmigkeit die Basis jeder kirchlichen Gemeinschaft ist. Darum folgt das Erkennen aus dem Glauben. Die christliche Lehre bedarf der vernünftigen Reflexion.

6. Schweitzer gelingt es, zu zeigen, wie das vernünftige Denken und die christliche Religion zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben gelangen. Insofern er letztere als elementare Religion begreift, gibt es für ihn keine doppelte Wahrheit. Glaube und Vernunft gehören untrennbar zusammen.

7. Die Beurteilung der Vernunft fällt bei Bultmann dialektisch aus: Einerseits kann die Vernunft nicht hoch genug geschätzt werden, was die menschliche Erkenntnisfähigkeit angeht, andererseits ist das mit dem Glauben verbundene Verstehen mehr als rationales Begreifen. Mag man dies noch nachvollziehen können, wenn es Bultmann dabei zu tun ist, Gottes Geheimnis zu wahren. Als fragwürdig dagegen muss ein Verständnis von »Wort Gottes« erscheinen, das nicht auf seinen geschichtlichen Verweischarakter befragt werden darf, sondern das den Anspruch erhebt, geglaubt zu werden.

8. Im Unterschied zu Bultmann traut offenbar Pannenberg der Vernunft zu, Gottes Offenbarung in der Geschichte zu erkennen. Es trifft zwar durchaus zu, dass das frühe Christentum Jesu Auferweckung im Vorstellungs- und Erwartungshorizont jüdischer Apokalyptik verstanden hat, ob wir aber ein heute zu verantwortendes Offenbarungsverständnis an das apokalyptische Geschichtsdenken koppeln können, scheint mir problematisch zu sein. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die endzeitliche Naherwartung Jesu und der ersten Christen nicht erfüllt hat.

9. Für ein liberales Christentum gehören Glaube und Vernunft partnerschaftlich zusammen, da sie es mit der einen Wahrheit zu tun haben. Der Glaube wird dadurch vor gedanklicher Verflachung und Selbstimmunisierung geschützt, die Vernunft vor bloßem Nützlichkeitsdenken und missbräuchlicher Instrumentalisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse.

10. Christlicher Glaube ist keine Konstruktion der Vernunft. Die christliche Botschaft beruft sich nämlich auf Gotteserfahrungen, vor allem auf die Offenbarung im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu. Jedoch muss die Botschaft von Gottes Offenbarung, die um der Transzendenz Gottes willen nur in symbolhafter Rede erfolgen kann, mit Hilfe der Vernunft gedanklich geklärt werden, damit sie auch kritische Zeitgenossen zu überzeugen vermag.