Sapere aude!

 

Leseprobe aus:

Entwicklungslinien
im liberalen Protestantismus

Die Printfassung enthält Fußnoten.

1. Die ethischen und politischen Herausforderungen unserer Zeit sind nur im Rahmen einer Verantwortungsethik zu bewältigen, die Vernunft und Herz in gleicher Weise anspricht, die nicht polemisiert, sondern verständig argumentiert.

2. Sowohl Jesu Liebesgebot, das unser Herz erreicht, als auch unser Eingebundensein in den Lebenszusammenhang mit allen Wesen, das sich dem vernünftigen Nachdenken erschließt, lassen eine Ethik der Ehrfurcht vor allem Leben als überzeugend erscheinen.

3. Allen Tendenzen zum Trotz, angesichts einer unübersichtlicher und bedrohlicher werdenden Weltlage das eigene Wohl und Glück abzusichern, gilt es, mit wachem Geist und frohem Mut für unsere Ideale der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des Friedens einzutreten.

4. Die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar. Religiös gesprochen: Jeder Mensch ist heilig, ist unmittelbar zu Gott. Diese Einsicht des Herzens und der Vernunft muss der Orientierungspunkt für unser Verhalten sein – ob in der Begegnung von Mensch zu Mensch oder in Politik und Gesellschaft.

5. Wenn auch der Privatbesitz durchaus berechtigt ist, darf darüber der Grundsatz »Eigentum verpflichtet« nicht vergessen werden. Vielmehr muss er dadurch zur Geltung gebracht werden, dass etwa die Reichen höher als bisher besteuert werden, um einen Ausgleich zwischen Arm und Reich zu erzielen.

6. So wichtig und notwendig die Unterstützung für wohltätige Organisationen ist, damit sollte im Sinne der Ehrfurcht vor dem Leben der persönliche Dienst an unseren Mitmenschen einhergehen.

7. Die Ehrfurcht vor dem Leben beinhaltet auch die Ehrfurcht vor den Tieren. Konkret heißt dies u.a.: Die Haltung von sogenannten Nutztieren hat deren natürlichen Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Wir müssen daher von einer auf Profitsteigerung ausgerichteten Massentierhaltung wegkommen. Deswegen und auch um des Klimas und der menschlichen Gesundheit willen ist unser Fleischkonsum zu verringern.

8. Alles politische Handeln ist daraufhin zu orientieren, dass es dem Frieden dient. Dies ist nicht nur Sache der Regierenden, sondern auch von uns allen. Jeder und jede kann dazu beitragen, dass im menschlichen Denken und Verhalten eine von Humanität bestimmte Gesinnung sich durchsetzt, die Grenzzäune und -mauern überwindet und gegenseitiges Verstehen und Gemeinschaft ermöglicht.

Ohne Frage – dies dürfte deutlich geworden sein – hält Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor  dem Leben eine Reihe von Impulsen für ethische und politische Lebensgestaltung bereit. Sie stellt uns in eine nicht begrenzbare Verantwortung hinein, was leicht zur Überforderung werden kann. Von daher muss jede und jeder von uns immer wieder sich selbst prüfen, was er oder sie leisten kann, ohne dabei sich selbst zugrunde zu richten. Schließt doch die Ehrfurcht vor dem Leben auch die vor dem eigenen Leben mit ein. Auch unter dem mangelnden Erfolg unseres ethischen Wirkens leiden wir. Wie wir der daraus erwachsenden Gefahr der Resignation begegnen können, dazu hat sich Schweitzer in seinem Aufsatz »Goethe, der Denker« anlässlich von Goethes 100. Todestag geäußert:

»Aus dem Gedanken, daß er kraft innerer Notwendigkeit an der Verwirklichung des Guten arbeitet, muß der Mensch alle Freude und allen Mut zum Tun schöpfen. Vom Leben darf er weder Glück erhoffen noch verlangen, die Früchte seiner Mühen zu sehen. Er darf auch nicht im geringsten den Halt verlieren, wenn die Unvernunft über die Vernunft den Sieg davonträgt.«

Für diese Haltung beruft sich Schweitzer auf einen Brief Goethes an Schiller, in dem jener auf Jesu Gleichnis vom Sämann anspielt: »Man sieht auch hieraus, daß man jenen Sämann, der nur säete, ohne viel zu fragen, wo es hinfiel, nachahmen soll.«