Leseprobe aus:
Albert Schweitzer
– Impulse für ein wahrhaftiges Christentum
Freiheit heißt Anfragen zulassen.
Keiner, der Christ sein möchte, braucht, wenn es um Glaube, Bekenntnis und Bibel geht, sein verstandesmäßiges Denken zu unterbinden oder seine Lebens- und Welterfahrung auszublenden.
Es gibt mancherlei Erfahrungen, die sich unserem Glauben in den Weg stellen: persönliche Leiderfahrungen wie Krankheit, Trennung oder Verlust eines lieben Menschen, menschliche Enttäuschungen oder berufliche Krisen. Da fällt es manchem schwer, im Gottvertrauen stark zu bleiben.
Es gibt Glaubensinhalte, die wir nur schwer oder gar nicht glauben können. Der eine kann sich eine leibliche Auferstehung nicht vorstellen, ein anderer nimmt Anstoß an dem Gedanken einer Jungfrauengeburt, einem dritten passen Vorstellungen wie Hölle und Himmel nicht in sein aufgeklärtes, naturwissenschaftlich geprägtes Weltbild.
Es gibt Widersprüche in der Bibel – die beiden völlig unterschiedlichen Schöpfungsberichte seien hier als das bekannteste Beispiel genannt –, an denen wir einfach nicht vorbeikommen, und die erklärt werden wollen.
Soll dies nun alles in unseren Herzen verschlossen bleiben, deutlicher gesagt: darf dies alles totgeschwiegen werden? Und zwar deshalb, weil man als guter Christ eben auch in Leiderfahrungen zuversichtlich bleiben muß, in Glaubensinhalten, die unserem Gefühl und unserem Verstand zuwiderlaufen, ein „Geheimnis“ sehen und es als solches anerkennen und liebgewinnen muß und die Bibel als Gottes Wort nicht hinterfragen darf. In vielen Gemeinden werden solche Anfragen in Gesprächskreisen und in der Predigt bereits aufgegriffen und ernst genommen. Denn viele Christen haben erkannt: Nur wenn ich mich als Christ meiner Lebens- und Welterfahrung stelle, den Anfragen und der Kritik, nur wenn ich sie aushalte und durchkämpfe, wird mein Glaube wahrhaftig und damit tragfähig werden.
„Ich werde jedem Menschen aus dem Wege gehen, der mich nicht frei sein läßt und die Eigenart, die gerade ich habe, nicht aufkommen lassen will. Was hilft’s, wenn uns jemand auch zum Guten knechtet! Es gibt kein Gutes, das nicht unwillkürliche Lebensäußerung ist. Alles Aufgenötigte wird Verzerrung. [...] Jesus wollte Freiheit und wahres Menschentum für alle Welt. Jesus will durchaus nicht nachgemacht [werden], sondern tief im Geiste erfaßt sein, und will freie, selbstbestimmte Menschen schaffen, keine uniformierten Rekruten. Wir müssen Menschen werden, die sich untereinander volle Freiheit gewährleisten.“ (Albert Schweitzer)
So wichtig für mich als Christ es ist, mit anderen zu sprechen, von anderen Trost zu hören, einer Predigt zu folgen, das Vaterunser zusammen mit anderen zu beten, gemeinsam in der Bibel zu lesen und darüber ins Gespräch zu kommen, das Glauben selbst kann mir niemand abnehmen. Hier bin ich unvertretbar ich selbst. Hier kommt es auf meine ureigene Überzeugung an, auf meine ganz persönliche Gottesbeziehung, auf mein unverwechselbares Verständnis von mir selbst, von Welt und Geschichte und zwar in bezug auf Gott.
Die Freiheit, in dieser Weise Anfragen zuzulassen und den Glauben zu bewähren, ist der erste Schritt zu einem wahrheitsbewußten Christentum.
Für Schweitzer war solche protestantische Freiheit gleichbedeutend mit dem „Recht“, ein „Ketzer zu sein“. Schweitzers „Ketzerei“ besteht nun darin, daß er sich unter Absehung von sämtlichen christologischen Lehrsätzen ganz auf die Willensgemeinschaft mit Jesus konzentriert:
„Und dann das Recht haben, ein Ketzer zu sein! Nur Jesus von Nazareth kennen; die Fortführung seines Werkes als einzige Religion haben [...] Nicht mehr die Angst vor der Hölle kennen, nicht mehr nach den Freuden des Himmels trachten, nicht mehr diese falsche Furcht haben, nicht diese falsche Unterwürfigkeit, die ein wesentlicher Bestandteil der Religion ist und doch wissen, daß man Ihn, den einen Großen, versteht und daß man sein Jünger ist.“
Mancher Christ wird vielleicht besorgt fragen, ob dies nicht ein bißchen wenig ist, wenn Christsein darin aufgeht, sich unter Jesu Willen zu beugen, „daß er mit dem unsrigen zu neuem Leben und Wirken geboren werde und an unserer und der Welt Vollendung arbeite“. Jedoch die Beschränkung auf das eine, was nottut – nämlich sich von Jesu Worten ergreifen und umtreiben lassen –, kann mehr sein als das Vielerlei sogenannter Glaubenswahrheiten, an denen man aus Tradition meint festhalten zu müssen, ohne daß sie wirklich in unserem Leben und Denken verwurzelt sind. Der Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft des Christentums wird es zweifellos zugute kommen, wenn wir als Christen – gerade auch dann, wenn wir Pfarrerin oder Pfarrer sind – in erster Linie dasjenige weitergeben, wovon wir wirklich überzeugt sind.