Sapere aude!

Leseprobe aus:
Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben

Resümee

1. Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist kein bloßes Schreibtischprodukt eines Philosophen, sondern verdankt sich einer bis in die Kindheit zurückreichenden lebenspraktischen und intellektuellen Auseinandersetzung mit unserem menschlichen Verhalten gegenüber der Kreatur.

2. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben lässt sich sowohl philosophisch als auch christlich-religiös begründen. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Schweitzer seine Ethik zuerst in Predigten vermittelt hat, bevor er sie in seiner Kulturphilosophie dargestellt hat.

3. Hinsichtlich unseres Verhaltens gegenüber den Tieren lässt die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben erkennen, was gut oder böse ist. Gleichwohl ist es uns nicht möglich, paradiesische Verhältnisse auf der Erde zu schaffen, da Leben stets auf Kosten anderen Lebens existiert. Wo immer es nur möglich ist, sollen wir aber Barmherzigkeit gegen die Tiere üben.

4. So sehr die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ein besonderes Gewicht auf die gewissenhafte ethische Entscheidung des Einzelnen legt, ergeben sich aus ihr ethische Leitlinien für unseren Umgang mit den Tieren. Diese gilt es, für die verschiedenen Lebensbereiche von Tieren zu konkretisieren und mit den jeweiligen Ergebnissen biologischer Forschung abzugleichen.

5. Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist insbesondere mit solchen Ansätzen in der neueren Tierethik kompatibel, die Mitgefühl, Fürsorge und Vernunft miteinander verbinden.

6. Über Schweitzer hinaus lässt sich mit Hilfe der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben nicht nur der Tierschutz, sondern auch Tierrechte begründen. Damit wird ein ungehemmtes kapitalistisches Wirtschaftssystem infrage gestellt, für das sogenannte Nutztiere primär Objekte gnadenloser Ausbeutung statt unserer Obhut anvertraute Mitgeschöpfe sind.

7. Das Wohl der Menschheit gibt es nur mit dem Wohl der Tiere, wofür die Arche als Symbol steht. Verantwortliche Zukunftspolitik muss deshalb den Tierschutz stärken und für dessen konsequente Verwirklichung sorgen. Dafür unsere Mitmenschen zu sensibilisieren und einzutreten, ist unser aller Aufgabe und ethische Verpflichtung im Geiste der Ehrfurcht vor dem Leben.

8. Albert Schweitzer verstand sich als einen „rationalistischen Pietisten“. Und so sei mir abschließend noch gestattet darauf hinzuweisen, welche wegweisenden tierethischen Forderungen sich bereits in den Schriften der beiden pietistischen Pfarrer Christian Adam Dann und Albert Knapp finden, die auch nach fast 200 Jahren immer noch ihrer Einlösung harren. So erinnert Dann an die Bestimmung des Menschen gemäß dem biblischen Schöpfungsbericht, „als ein mit Vernunft begabtes Wesen“ in Bezug auf die Tiere „ihr Ernährer, ihr Pfleger, Beschützer und Wohlthäter“ zu sein. Stattdessen sei er „ein Verderber der Erde, ein Tyrann der Thiere geworden“. Weiter übt Dann scharfe Kritik an „ausgesuchten Martern“, „die den lebendig-zergliederten Thieren ohne Gewinn für die Wissenschaft und für’s Wohl der Menschheit zugefügt werden“. Sogar die Forderungen der modernen Tierrechtsbewegung werden vorweggenommen, wenn Dann von den „Rechte[n] der Thiere an uns und unsere[n] Pflichten gegen sie“* spricht und Knapp feststellt, dass „wie die Sklavenwelt“ auch „die arme Thierwelt einer Emancipation“ bedarf.

_________________________________________________________

* Christian Adam Dann, Nothgedrungerer durch viele Beispiele beleuchteter Aufruf an alle Menschen von Nachdenken und Gefühl zu gemeinschaftlicher Beherzigung und Linderung der unsäglichen Leiden der in unserer Umgebung lebenden Thiere (1832), in: ders. / A. Knapp, Wider die Thierquälerei. Frühe Aufrufe zum Tierschutz aus dem württembergischen Pietismus [KTP 7], hg. v. Martin H. Jung, Leipzig 2002, S. [40-64], 62.