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Leseprobe aus:

Was ist unverzichtbar am Christentum?

Abschließende Thesen

 

In Form einiger Thesen möchte ich nun den Versuch unternehmen, die mir gestellte Frage zu beantworten:  „Welcher Jesus ist für das Christentum unverzichtbar?“ Dabei nehme ich einerseits Bezug auf die bisherigen Ausführungen, andererseits fasse ich Ergebnisse eigener Untersuchungen zusammen, die gesammelt in meinem Aufsatzband vorliegen:  „Jesus und die frühchristliche Verkündigung“ [1].

1. Nicht ein mythischer Gottmensch oder ein kosmischer Christus ist für das Christentum unverzichtbar, sondern der Mensch Jesus von Nazareth; denn sämtliche christologischen Glaubenssätze angefangen von Präexistenz und Jungfrauengeburt über Sühnetod am Kreuz und leibliche Auferstehung bis hin zum Kommen zum Weltgericht sind für ein der Wahrheit verpflichtetes Christentum problematisch geworden.

1.1. Die Vorstellungen von Präexistenz und Jungfrauengeburt sind ursprünglich auf dem Boden hellenistisch-orientalischer Religiosität gewachsen und vermittelt durch das hellenistische Judentum als Bindeglied auf Jesus übertragen worden [2]. Sie gehören dem für uns versunkenen antiken Weltbild an.

1.2. Jesus hat seinem ihm bevorstehenden Tod keine Sühnefunktion beigemessen. Die Deutung des Todes Jesu als stellvertretende Sühne ist vielmehr erst im hellenistisch-judenchristlichen Bereich ausgebildet worden und verdankt sich dem Bedürfnis, Jesu Kreuzestod einen positiven Sinn abzugewinnen. Darüber hinaus ist es für den Menschen seit der Aufklärung ein inakzeptabler Gedanke, dass Jesus in seinem Kreuzestod Schuld und Strafe aller Menschen auf sich genommen haben soll.

1.3. Tiefenpsychologische Exegese, Halluzinationsforschung und der religionsgeschichtliche Vergleich legen es nahe, die Ostererscheinungen als subjektive Visionen zu beurteilen.

1.4. Im frühen Christentum verstand man die Auferstehung Jesu als Beginn der endzeitlichen Totenauferstehung, die sich zusammen mit der in nächster Zeit erwarteten Wiederkunft Christi ereignen sollte. Jedoch das, was mit Ostern hätte eingeleitet werden sollen, hat sich nicht ereignet. Statt von einer Verzögerung der Parusie (Wiederkunft) Christi ist redlicherweise von derem Ausbleiben zu sprechen.

2. Ob Jesus für uns lebendig ist oder uns lediglich als eine Größe der Vergangenheit erscheint, entscheidet sich daran, ob uns seine Worte und sein Verhalten überzeugen, uns umtreiben und uns den Weg ins Leben weisen.

3. Jesus sah seinen Auftrag darin, die Menschen gerade die Schwachen, Kranken und an den Rand der Gesellschaft Gedrängten der Zuwendung Gottes zu vergewissern, ihnen Gottes Barmherzigkeit zu predigen und sie Gottes Liebe erfahren zu lassen, nicht nur mit Worten, sondern durch sein ganzes Verhalten. Folgen wir darin Jesus, dann haben wir innere Gemeinschaft mit ihm und können uns von weltanschaulichen Vorstellungen lösen, die einer vergangenen Zeit angehören.

4. Anders als Jesus können wir das Reich Gottes nicht mehr allein von Gott erwarten, sondern als Christen sind wir aufgerufen, jeder an seinem Ort und mit seinen Möglichkeiten, etwas davon zu verwirklichen, was Jesus mit  „Reich Gottes“ meinte.
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1 WERNER ZAGER, Jesus und die frühchristliche Verkündigung. Historische Rückfragen nach den Anfängen, Neukirchen-Vluyn 1999.

2 Vgl. HERBERT BRAUN, Jesus der Mann aus Nazareth und seine Zeit. Um 12 Kapitel erweiterte Studienausgabe, Stuttgart 1984, S. 240-246; DIETER ZELLER, Christus unter den Göttern. Zum antiken Umfeld des Christusglaubens, Stuttgart 1993, S. 91-109; PAUL HOFFMANN, Zur Problematik der christologischen Karriere des Jesus von Nazareth, in: ders., Studien zur Frühgeschichte der Jesus-Bewegung (SBAB 17), Stuttgart 1994, S. 257-272; GERHARD SELLIN, Eine vorchristliche Christologie. Der Beitrag des alexandrinischen Juden Philon zur Theologie im Neuen Testament, in: ZNT (2. Jg. 1999), S. 12-21.