Sapere aude!

Leseprobe aus:

Was ist (uns) heilig?

Werner Zager (Hg.)

 

1. Im Alten Testament ist JHWHs Heiligkeit ganz eng verknüpft mit dem von ihm erwählten und geheiligten Volk Israel, das ihm als seinem Eigentum Gehorsam schuldet.

2. Zwar ist nach alttestamentlichem Zeugnis das gesamte Volk Israel aufgrund seiner göttlichen Erwählung heilig, in herausgehobener Weise aber trifft dies auf die Priester zu, was mit deren Opferdienst erklärt wird.

3. Als Ort der göttlichen Präsenz wird der Tempel von Jerusalem verehrt. Diese Vorstellung wird allerdings zum Problem, als die Babylonier Stadt und Tempel Jerusalems zerstörten. Umso wichtiger wird dann die Betonung der göttlichen Transzendenz.

4. Als heilige Zeiten fungieren in Israel vor allem der Sabbattag, aber auch andere Festzeiten, an denen verboten ist zu arbeiten. Jesus zufolge darf daraus aber kein Selbstzweck ohne Rücksicht auf das Wohl des Menschen werden, da der Sabbat bzw. der Feiertag für den Menschen da ist und nicht umgekehrt.

5. Zwischen Priestern und Laien gibt es in Israel eine deutliche Trennung, weil Priester im Unterschied zu ihren Volksgenossen über einen privilegierten Zugang zum Heiligen verfügen.

6. Wenn in Jesu Verkündigen und in seinen Heilungen die endzeitliche Gottesherrschaft bereits anbricht bzw. sich durchzusetzen beginnt, womit sich die paradiesische Urzeit erneuert, erledigen sich für Jesus die bisher gültigen Unterscheidungen von heilig und profan, rein und unrein. Nur in einem übertragenen, d.h. ethischen Sinne kann davon noch die Rede sein.

7. Im frühen Christentum tritt an die Stelle des Opferkults und des damit verbundenen Heiligen die Erfahrungen des heiligen Geistes, der das Leben in den Gemeinden bestimmt. Dabei gehören für Christen liturgischer Gottesdienst und vernünftiger Gottesdienst im Alltag der Welt notwendigerweise zusammen.

8. Das frühe Christentum ist eine Religion ohne Opfer. Darum gibt es auch keine Unterscheidung mehr von Priestern und Laien. Vielmehr sind alle Gemeindeglieder Priester, also unmittelbar zu Gott; ebenso sind sie aber auch Laien, nämlich gleichberechtigte Glieder des neuen Gottesvolkes aus Juden und Heiden.

9. Alttestamentliche Kultsprache kann christlicherseits folglich nur in einem geistigen Verständnis angeeignet werden – im Sinne von Hingabe an den ethischen Gotteswillen und dessen Verwirklichung in der Welt.

10. Wollen wir nicht hinter die im Neuen Testament erreichte Glaubenserkenntnis zurückfallen, dann darf es innerhalb der Kirche keinen dem Laienstand übergeordneten Priesterstand geben. Dieses reformatorische Anliegen gilt es vonseiten des Protestantismus auch heute zu bewahren und zu verteidigen, wo immer Klerikalisierung droht.

11. Liturgischer Gottesdienst und vernünftiger Gottesdienst im Alltag der Welt bilden für Christen eine Einheit, da Hingabe an Gott und Hingabe an die Mitmenschen notwendig zusammengehören.

12. Für Christen darf nichts sakrosankt, d.h. unhinterfragbar, sein. Gerade wenn wir Gott ernst nehmen, muss es erlaubt sein, über ihn eigenständig nachzudenken. In dieser Zeit und Welt dürften uns die Fragen und Zweifel nicht ausgehen. Erst in der Ewigkeit ist uns verheißen, dass wir keine Fragen haben werden (vgl. Joh 16,23).