Sapere aude!

Leseprobe aus:
Reformation heute II

 

aus dem Beitrag von Armin Kohnle,
Luther vor Kaiser und Reich
Von der schwierigen Grenzziehung zwischen „geistlich“ und „weltlich“

Die Printfassung enthält Fußnoten.

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Die Diskussion über die Grenzen der weltlichen Gewalt trieb das evangelische Lager im Jahrzehnt nach dem Wormser Reichstag geradezu um. In diesen schon 1521 erkennbaren Zusammenhang sind sowohl der Diskurs über das Widerstandsrecht als auch Luthers theologische Reflexion über die Obrigkeit einzuordnen. Hier soll es um Luthers Obrigkeitslehre gehen, deren Wirkungen bis in die Gegenwart auf dieser Tagung thematisiert werden sollen. Auf eine Auseinandersetzung mit der geradezu uferlosen Forschungsliteratur26 muss aus Platzgründen verzichtet werden.

Der Begriff »Zwei-Reiche-Lehre« ist bekanntlich eine Prägung erst des Jahrhunderts.27 Luther stand in der Vorstellungswelt Augustins und in den auf ihr aufbauenden mittelalterlichen Theorien über das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt, ohne dass er in dieser Tradition aufging. Vielmehr transformierte er sie und bildete aus ihr etwas Neues. Neu war Luthers Bestimmung des Verhältnisses von geistlicher und weltlicher Gewalt schon deshalb, weil für ihn »geistlich« eine Bedeutung hatte, die mit der mittelalterlichen Tradition radikal brach. Die Lehre vom allgemeinen Priestertum der Getauften, die erstmals in der Adelsschrift von 1520 vorgetragen wurde, ist als ein Zentraltopos des Reformatorischen in jüngerer Zeit wieder ins Bewusstsein gerückt worden.28 Die für die mittelalterliche Kirche und Gesellschaft fundamentale Unterscheidung von geweihten Klerikern und nicht geweihten Laien war damit hinfällig. Alle Christen, so Luther, sind wahrhaft geistlichen Standes und unterscheiden sich nur hinsichtlich des ausgeübten Amtes, nicht aber durch eine höhere, durch Weihe verliehene geistliche Qualität. Diese Einsicht, an der er sein Leben lang festgehalten hat, war die Basis für eine Neubewertung weltlicher Lebenszusammenhänge einschließlich des obrigkeitlichen Amtes. Auch die Obrigkeit ist wahrhaft geistlichen Standes, sofern sie als christliche Obrigkeit ihr Amt in dem Rahmen ausübt, der ihr von Gott gesetzt ist. Klerikale Privilegien wie Steuerbefreiung oder eigener Gerichtsstand haben ihre Berechtigung verloren. In vielen Territorien und Städten des Reiches ging die Einführung der Reformation deshalb mit einer Verbürgerlichung der neuen evangelischen Geistlichkeit einher.

Wer die Kontinuitätslinien zwischen Mittelalter und Reformationszeit an dieser Stelle allzu dick ausmalt, berücksichtigt diesen Systembruch nicht ausreichend. Es ist gar nicht in Abrede zu stellen, dass Luther aus der Erfahrungswelt des sogenannten »vorreformatorischen landesherrlichen Kirchenregiments« kam und dass es auch auf landesherrlicher Seite schon vor dem Auftreten Luthers als Selbstverständlichkeit galt, zu reformerischen Eingriffen in die kirchlichen Belange im eigenen Herrschaftsbereich berechtigt zu sein. Kirchenregiment wurde schon vor der Reformation als Teil der landesherrlichen Gewalt aufgefasst.29 Das musste Luther den Territorialfürsten seiner Zeit nicht erst beibringen. Und dennoch bedeutete Luthers Obrigkeitslehre einen Schritt über das Vorfindliche hinaus.